Tante Inge haut ab
mit Luise verabredet, einer Freundin, die gerade für zwei Tage auf Sylt war. Sie hatten morgens telefoniert, und Luise hatte vorgeschlagen, sich am frühen Abend zu treffen, ihr Mann hätte berufliche Termine auf der Insel, er würde später dazustoßen. Sie sei so gespannt, was Johann für ein Typ sei. Christine hatte das Telefon auf Lautsprecher gestellt, weil sie sich gerade die Fußnägel lackierte, so dass Johann mithören konnte. Danach erklärte er, er komme ebenfalls später. »Weißt du, mit den alten Freundinnen, die einen unter die Lupe nehmen, ist das so eine Sache ... also, ich komme gegen halb acht dazu, da ist Luises Mann ja dann auch da, oder ?«
»Du kannst gern schon früher kommen.«
Er küsste sie und nickte. »Mal sehen.«
Luise war noch nicht da, trotz der Verspätung. Nachdem Christine sich im Lokal umgesehen hatte, setzte sie sich auf die Terrasse, von wo aus sie den Strand und gleichzeitig jeden ankommenden Gast im Blick hatte.
Eine unglaublich hübsche Kellnerin kam an den Tisch. Sie sah aus wie ein Model, hatte ihre langen Haare hochgesteckt und lächelte. Sie trug ein Namensschild: Anika. Auch noch ein schöner Name.
Bevor Christine etwas bestellen konnte, klingelte jedoch ihr Handy. Luise.
»Hallo, ich habe die Zeit vertrödelt, ich beeile mich, bis gleich.«
»Wollen Sie mit dem Bestellen noch warten?«
»Äh, nein, ich möchte einen Milchkaffee und ein Wasser.«
Versonnen starrte Christine ihr nach. Wieso waren manche Menschen nur so schön, hatten so eine Figur und einen solchen (lang ? Drei Minuten später kam Anika mit der Bestellung und einer Zeitung zurück.
»Die >Sylter Rundschau< von heute. Falls Ihnen das Warten langweilig wird.«
Nett war sie auch noch. Während Christine ihren Kaffee trank, überflog sie die Schlagzeilen und hob zwischendurch immer mal wieder den Blick, um Luise nicht zu verpassen. Und plötzlich entdeckte sie auf der Promenade Tante Inge, die einen roten Hosenanzug trug und auf die » Badezeit« zusteuerte. Christine hatte sich schon halb erhoben, um sie zu rufen, als Inge auf einmal stehen blieb und sich umdrehte. Offensichtlich wartete sie auf jemanden. Vermutlich hatte sie Heinz im Gefolge, der mit seinen kurzen Beinen nicht hinterherkam. Hoffentlich blieben sie nicht zum Essen, Johann sollte eigentlich in Ruhe Luise kennenlernen.
Christine beugte sich über das Geländer. Doch es war nicht ihr Vater, der Inge folgte. Es war noch nicht mal jemand, den Christine kannte. Tante Inge lächelte den Mann entrückt an, der ihr den Vortritt an der Treppe ließ und ihr dann mit lässigem Gang folgte. Graumeliertes Haar, sportliche Figur, teurer Anzug und höchstens Anfang fünfzig. Also locker zehn Jahre jünger als Tante Inge.
Sie betraten zusammen das Lokal, Tante Inge hatte ihre Nichte anscheinend nicht entdeckt, obwohl sie sich konzentriert nach einem Tisch umgesehen hatte. Christine lehnte sich vorsichtig zurück und spähte in das Restaurant, wo sich ihre Tante mit dem Rücken zum Fenster auf den vierten Stuhl, den sie ausprobiert hatte, setzte. Ihr Begleiter war höflich stehen geblieben und nahm nun ihr gegenüber Platz. Er sah ausgesprochen gut aus. Und er lächelte Tante Inge an.
Christine kniff die Augen zusammen. Sah so jemand aus, dem die späte Liebe gerade den Boden unter den Füßen weggezogen hatte? Wobei ... eigentlich interessierte es sie viel mehr, wie Tante Inge im Moment schaute. Aber ihr Gesicht konnte sie von der Terrasse aus nicht erkennen, und ihr Rücken wirkte wie immer.
Der Unbekannte zog jetzt einige zusammengerollte Papiere aus seiner Anzugtasche, strich sie glatt und schob sie Inge hin. Christine beugte sich mitsamt dem Stuhl vor, um mitzukriegen, wie Inge reagierte. Anscheinend redete sie weiter, legte dabei aber eine Hand auf seinen Unterarm.
»Wen observierst du gerade?«
Fast hätte Christine das Gleichgewicht verloren, im letzten Moment knallte der Stuhl auf alle vier Beine zurück. Aufgeschreckt durch den Krach hoben die anderen Gäste auf der Terrasse die Köpfe.
»Oh. Nichts. Hallo Luise. Da bist du ja endlich.«
Mit einem schnellen Blick vergewisserte Christine sich, dass Tante Inge und ihr Galan sich in der Zwischenzeit nicht nähergekommen waren. Waren sie nicht. Inzwischen redete er, und ihre Hand lag auf den Papieren.
Luise folgte ihrem Blick. »Der Typ da? Der Graumelierte im Anzug? Nicht unflott, aber ich denke, du bist nicht mehr auf der Suche? Apropos, wo ist dein Wundermann eigentlich?«
»Er
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