Tante Inge haut ab
ein Grinsen. Sie hielten vor einem Reetdachhaus mit blauen Gauben. Auf dem Schild stand »Uns to Hus«. Inge öffnete die Autotür, bevor Christine den Motor abgestellt hatte.
»Danke fürs Herbringen. Johann, tragen Sie mir das Gepäck bitte rein? Christine, du kannst im Wagen sitzen bleiben, du parkst so blöd. Ich komme später bei euch vorbei, bis dann.«
Tante Inge eilte mit schnellen Schritten zur Eingangstür. Johann folgte ihr in gebührendem Abstand mit ihrem vielen Gepäck. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich.
Christine hatte Johann unter etwas schwierigen Umständen kennengelernt. Im letzten Sommer hatte sie ihren Vater mit nach Norderney nehmen müssen, wo sie einer Freundin bei der Renovierung einer Kneipe helfen wollte. Sie konnte sich nicht wehren, ihre Mutter bekam ein neues Knie und hatte einfach beschlossen, dass Töchter sich im Notfall um ihre Väter zu kümmern hatten. Auf der Insel angekommen, vergaß Heinz leider, dass Christine 45 war, und verfiel in alte Muster. Anfangs behielt Christine noch die Nerven, aber als Heinz begann, die vorsichtige Annährung zwischen seiner Tochter und dem Pensionsgast Johann zu torpedieren, nur weil der seiner Meinung nach »tückische Augen« hatte, reichte es ihr. Heinz leider nicht. Er steigerte sich in die Vorstellung hinein, Johann wäre ein Heiratsschwindler, und setzte - angefeuert von seinem Jugendfreund Kalli und einem ziemlich durchgeknallten Inselreporter - alles daran, ihn auffliegen zu lassen.
Es kam zu erheblichen Komplikationen.
Es hatte sich zwar alles geklärt, aber Christine befürchtete, Johanns Meinung über ihren Vater sei durch die Norderneyer Eskapaden maßgeblich beeinflusst. Der zweiwöchige Urlaub im Haus ihrer Eltern sollte Johann davon überzeugen, dass sie aus einer durchaus zivilisierten, eigentlich reizenden und vor allen Dingen völlig normalen Familie stammte und dass das Verhalten von Heinz ein Ausrutscher gewesen war. Dass Tante Inge nun plötzlich auftauchte, war dabei nicht eben hilfreich.
Johann kam langsam zurück, setzte sich auf den Beifahrersitz. Christine legte ihre Hand auf sein Knie.
»Tante Inge ist die Schwester von Heinz. Und meine Patentante. Sie ist sehr nett.«
»Ja. Klar.« Er schnallte sich umständlich an. »Ein bisschen direkt vielleicht.«
Christine startete den Motor. »Wollen wir noch etwas trinken, oder fahren wir direkt zu meinen Eltern?«
»Lass uns erst mal irgendwo etwas trinken. Bitte.«
Während Christine losfuhr, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich hatte Tante Inge sich einfach nur entschlossen, bei der Tochter einer Freundin ein paar Tage friedlich auszuspannen.
Eine halbe Stunde später saßen sie auf der Terrasse von »Wonnemeyer« in Wenningstedt und blickten aufs Meer. Wasser beruhigt, Christine hoffte, dass es auch bei Johann wirkte. Er trank stumm ein Weizenbier, während sie in ihrem Kaffee rührte. Runde um Runde. Schweigend. Endlich hob er den Kopf.
»Es ist ja wirklich albern, dass ich mich in meinem Alter noch nervös machen lasse, nur weil ich mit dir für zwei Wochen zu deinen Eltern fahre.«
Christine fand nicht, dass es albern war, schließlich hatte ihr Vater ihn bereits auf Norderney Blut und Wasser schwitzen lassen. Das konnte sie aber nicht zugeben.
»Johann, mein Vater ist in Wirklichkeit ganz anders. Er hat sich nur ein bisschen verrückt machen lassen. Das war alles. Wenn du ihn erst besser kennst, wirst du das merken. Er neigt sonst nie zu irgendwelchen wilden Aktionen. Eigentlich hat er überhaupt keine Fantasie. Er ist ganz friedlich."
Johanns Blick blieb skeptisch. Aber das Meer schien ihn zu beruhigen. Wenigstens gab er sich Mühe.
»Vermutlich. Und deine Tante Inge? Ist die sonst auch ganz anders ?«
»Ja. Sie ist ganz reizend. Sie ist seit 45 Jahren mit Onkel Walter verheiratet, sie haben eine Tochter, Pia, die in Berlin lebt und gerade vierzig geworden ist. Mein Onkel war Steuerinspektor, er ist vielleicht ein bisschen dröge, aber auch sehr lieb. Inge ist auf Sylt aufgewachsen, sie kommt ein paar Mal im Jahr her und besucht ihre alten Bekannten, das ist ganz normal.«
Christine plapperte sich selbst ruhig. Inge kam nie ohne Onkel Walter. Erneut tauchte in ihrem Kopf das Bild des blutgetränkten Sofas auf, das sie sofort verscheuchte.
»Und warum will deine reizende Tante jetzt ihr Leben verändern ?«
»Ach, das war doch nur so ein Spruch. Vermutlich meinte sie damit nur, dass sie ohne Onkel Walter verreist ist. Das hat sie
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