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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Schluckaufanfall. Sie lief zu Maria Portal und fragte sie nach dem Alter ihres Sohnes, und die Näherin gestand, daß er, obwohl seine Größe und die Gestalt die eines Zehnjährigen waren, bereits achtzehn Jahre alt war. Mutter Lituma bekreuzigte sich und verbot ihm, jemals wieder in das Kloster zu kommen.
    Das war ein beinahe tödlicher Schlag für den Barden der Plaza Santa Ana, der an einem romantischen, nicht deutbaren Übel erkrankte. Viele Tage blieb er im Bett – sehr hohes Fieber, musikalisches Delirium –, während die Ärzte und Kurpfuscher Tränke und Arzneien ausprobierten, um ihn aus dem Koma zurückzuholen. Als er wieder aufstand, war er wie ein Gespenst, das sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Aber – konnte es anders sein? – von seiner Geliebten getrennt zu sein, war für seine Kunst ein Glück: es machte seine Musik so gefühlvoll, daß sie zu Tränen rührte, und seine Texte wurden auf männliche Art dramatisch. Die großen Liebeslieder von Crisanto Maravillas stammen aus jenen Jahren. Seine Freunde fragten sich jedesmal, wenn sie zu den zarten Melodien jene herzzerreißenden Verse hörten, die von einem eingesperrten Mädchen sprachen – Lerche in ihrem Bauer, gefangenes Täubchen, Blume, die gepflückt und im Tempel des Herrn gefangengehalten wird – und von einem leidenden Mann, der sie aus der Ferne und ohne Hoffnung liebt: wer ist das? Und sie versuchten – Neugier, die Eva verdarb –, die Heldin unter den Frauen, die den Sänger belagerten, herauszufinden.
    Denn trotz seiner Verbogenheit und Häßlichkeit übte Crisanto Maravillas einen anziehenden Zauber auf die Frauen von Lima aus. Weiße mit Bankkonten, halbseidene Cholas, Mulattinnen aus den Gassen, Mädchen, die gerade das Leben lernten, oder humpelnde Alte, alle erschienen sie in dem bescheidenen Zimmer H unter dem Vorwand, ihn um ein Autogramm zu bitten. Sie machten ihm schöne Augen, brachten ihm Geschenke, schnurrten und schmeichelten sich ein, schlugen ihm Verabredungen oder ganz direkt die Sünde vor. Hatten jene Frauen, wie die eines bestimmten Landes, das sogar im Namen seiner Hauptstadt eine gewisse Pedanterie an den Tag legt (Gute Winde, Gute Zeiten, Gesunde Luft? Buenos Aires?), die Gewohnheit, verkrüppelte Männer vorzuziehen, wegen jenes dummen Aberglaubens, daß sie, was die Ehe betrifft, besser sein sollten als Normale? Nein, in diesem Fall war es so, daß der Reichtum seiner Kunst den kleinen Mann der Plaza Santa Ana mit einer Geistigkeit umgab, die seine physische Dürftigkeit verschwinden ließ und ihn sogar anziehend machte. Crisanto Maravillas – Sanftheit des von der Tuberkulose Genesenden – entmutigte höflich die Avancen und ließ die Bittstellerinnen wissen, daß sie nur ihre Zeit vergeudeten. Damals sprach er jenen esoterischen Satz aus, der ein unbeschreibliches Gerede um ihn herum aufkommen ließ: »Ich glaube an die Treue, und ich bin ein kleiner Hirte Portugals.«
    Sein Leben damals: die Bohème der Zigeuner des Geistes. Er stand gegen Mittag auf und pflegte mit dem Priester der Kirche von Santa Ana zu Mittag zu essen, einem ehemaligen Untersuchungsrichter, in dessen Büro sich ein Quäker (Don Pedro Barreda y Zaldîvar?) verstümmelt hatte, um seine Unschuld an einem Verbrechen zu beweisen, dessen man ihn beschuldigte (einen schwarzen blinden Passagier getötet zu haben, der im Bauch des Ozeanriesen aus Brasilien gekommen war?). Tief beeindruckt vertauschte Dr. Don Gumercindo Tello die Toga mit der Soutane. Das Ereignis der Verstüm melung verewigte Crisanto Maravillas in einem Festgesang mit Quijada, Guitarre und Kasten: »Das Blut spricht mich frei.« Der Barde und Pater Gumercindo hatten die Gewohnheit, zusammen durch jene Straßen Limas zu gehen, wo Crisanto – Künstler, der sich aus dem Leben selbst nährt? – Personen und Themen für seine Lieder sammelte. Seine Musik – Tradition, Geschichte, Folklore, Klatsch – verewigte die Typen und die Gewohnheiten der Stadt in Melodien. In den Gehegen um den Platz von Cercado und von Santo Cristo sahen Maravillas und Pater Gumercindo zu, wie die Kampfhahnzüchter ihre Champions für die Kämpfe im Kolosseum von Sandia trainierten, und so entstand die Marinera: »Gib acht auf den Teufelspfeffer, Mama.« Oder sie sonnten sich auf dem kleinen Platz von Carmen Alto, in dessen Atrium Crisanto das Thema für den Vais »Das Fräulein von Carmen Alto« fand (der so beginnt: »Deine Finger sind aus Draht und dein Herz aus Stroh, ach, meine

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