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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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jeden Rhythmus sofort, und obgleich seine Hände sehr schwach waren, konnte er geschickt jede kreolische Musik auf dem Kasten begleiten. In diesen Zwischenakten, in denen die Musiker aßen oder tranken, lernte er ganz allein die Geheimnisse und wurde ein enger Freund der Guitarren. Die Nachbarn gewöhnten sich daran, ihn auf den Festen als Musiker spielen zu sehen. Seine Beine waren nicht gewachsen, und obwohl er bereits vierzehn Jahre alt war, sah er aus wie acht. Er war sehr mager –untrüglicher Beweis seiner künstlerischen Natur, Schlankheit, die die Begabten verbrüdert –, denn er war ständig ohne Appetit, und wenn Maria Portal nicht gewesen wäre mit ihrer militärischen Dynamik, um ihm die Nahrung geradezu einzutrichtern, hätte der junge Mann sich in nichts aufgelöst. Dieses gebrechliche Wesen kannte jedoch keine Müdigkeit, sobald es um Musik ging. Die Guitarristen des Viertels rollten erschöpft zu Boden, nachdem sie viele Stunden lang gespielt und gesungen hatten, ihre Finger verkrampften sich, und sie hatten sich heiser gesungen, aber der Lahme spielte weiter, auf einem Strohstühl-chen sitzend (japanische Füßchen, die niemals den Boden berühren, kleine unermüdliche Fingerchen), und entlockte den Saiten hinreißende Harmonien und trällerte, als hätte das Fest gerade begonnen. Er hatte keine kräftige Stimme; er wäre unfähig gewesen, die Heldentaten des berühmten Ezequiel Delfin nachzuahmen, der, wenn er bestimmte Valse in G-Dur sang, die Scheiben der gegenüberliegenden Fenster zum Springen brachte. Aber den Mangel an Kraft kompensierte sein unerschöpflicher Anschlag, die haargenaue Harmonie, die Fülle der Abstufungen, die niemals eine Note vernachlässigte oder falsch benutzte.
    Aber nicht sein Können als Interpret machte ihn berühmt, sondern als Komponist. Daß der Lahme aus Barrios Altos nicht nur kreolische Musik spielen und singen, sondern auch komponieren konnte, kam an einem Samstag heraus, bei einem deftigen Fest, das unter Papierschlangen und bunten Fahnen in der Gasse von Santa Ana am Namenstag der Köchin gefeiert wurde. Um Mitternacht überraschten die Musiker die Versammlung mit einer unbekannten Polka, die aus einem schelmischen Wechselgesang bestand: Wie?
    Zum Ruhme, zum Ruhme, zum Ruhme. Was tust du?
    Ich trag eine Blume, eine Blume, eine Blume. Wo?
    Am Schal, am Schal, am Schal. Für wen?
    Für Maria Portal, Maria Portal, Maria Portal… Der Rhythmus steckte die Hörer unwiderstehlich an zu tanzen, zu springen, zu hüpfen, und der Text amüsierte sie. Alle wollten es wissen: wer war der Autor? Die Musikanten drehten die Köpfe und deuteten auf Crisanto Maravillas, der – Bescheidenheit der wirklich Großen – die Augen niederschlug. Maria Portal verschlang ihn mit Küssen, der Bruderschaftler Valentin verdrückte eine Träne, und das ganze Viertel feierte den neuen Verseschmied mit einer Ovation. In der Stadt der Verschleierten war ein neuer Künstler geboren. Die Laufbahn von Crisanto Maravillas (wenn dieser sehr nach athletischem Wettlauf klingende Terminus eine Betätigung bezeichnen darf, die vom Atem Gottes –? – gekennzeichnet ist) war meteorartig. In wenigen Monaten waren seine Lieder in ganz Lima bekannt, und in einigen Jahren waren sie im Gedächtnis und im Herzen ganz Perus. Er war noch nicht zwanzig, als Hinz und Kunz zugaben, daß er der beliebteste Komponist des Landes sei. Seine Valse erklangen auf den Festen der Reichen, zu ihnen tanzte man bei den Essen der Mittelklasse und bei den Mahlzeiten der Armen. Die Orchester der Hauptstadt wetteiferten miteinander, seine Musik zu spielen, und es gab weder Mann noch Frau, die, wenn sie mit dem schwierigen Beruf des Sängers begannen, nicht die Wunderwerke von Maravillas in ihr Repertoire aufnahmen.
    Schallplatten wurden gepreßt, Lieder gedruckt, und im Radio wie in Revues waren seine Stücke ein Muß. Für den Klatsch und die Phantasie der Leute wurde der lahme Komponist aus Barrios Altos zur Legende.
    Der Ruhm und die Popularität verwirrten den einfachen Knaben nicht, der diese Ehrungen mit der Gleichgültigkeit des Schwans hinnahm. Nach der zweiten Klasse der Mittelstufe ging er von der Schule ab, um sich ganz der Kunst zu widmen. Von den Geschenken, die man ihm machte, wenn er auf Festen spielte, Serenaden sang und Lieder zu Namenstagen komponierte, konnte er sich eine Guitarre kaufen. An dem Tag, an dem er sie erhielt, war er glücklich: er hatte einen Vertrauten für seinen Kummer gefunden, einen

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