Tante Julia und der Kunstschreiber
Freund in der Einsamkeit und eine Stimme für seine Eingebungen.
Er konnte Noten weder lesen noch schreiben und lernte es auch nie. Er arbeitete nach dem Gehör, rein intuitiv. Sowie er eine Melodie gelernt hatte, sang er sie dem Cholo Blas Sanjinés, einem Lehrer des Viertels, vor, und der setzte sie in Noten. Niemals wollte er sein Talent auf den Markt tragen, er sicherte seine Kompositionen nicht und verlangte auch keine Tantiemen, und wenn Freunde ihm erzählten, daß die Mittelmäßigen aus den unteren Künstlerschichten seine Melodien und Texte plagiierten, gähnte er nur. Trotz dieses mangelnden Interesses verdiente er etwas Geld, das ihm die Schallplattenfirmen und Radiosender schickten und das man ihm aufzwang, wenn er auf irgendeinem Fest spielte. Crisanto gab dieses Geld seinen Eltern, und als diese starben, er war schon dreißig Jahre alt, gab er es mit seinen Freunden aus. Er wollte auch niemals Barrios Altos verlassen, auch nicht das Zimmer H in der Gasse, wo er geboren war. War es aus Treue und Anhänglichkeit an seine bescheidene Herkunft, war es Liebe zur Gosse? Zweifellos auch. Aber es war vor allem, weil er in diesem engen Hof einen Steinwurf von dem blaublütigen Mädchen namens Fâtima entfernt war, das er kennengelernt hatte, als es noch eine Dienstmagd war, und das jetzt den Schleier genommen hatte und die Gelübde des Gehorsams, der Armut und (ach!) der Keuschheit als Braut des HErrn abgelegt hatte.
Das war das Geheimnis seines Lebens, der Grund für seine Traurigkeit, die alle Welt – Blindheit der Menge für die Wunden der Seele – stets seinen verkümmerten Beinen und seiner asymmetrischen kleinen Figur zuschrieb. Außerdem aber hatte Crisanto dank dieser Mißbildung, die ihn um Jahre zurückbleiben ließ, seine Mutter in die Zitadelle der Barfüßigen Schwestern begleitet und hatte wenigstens einmal in der Woche das Mädchen seiner Träume gesehen. Liebte Schwester Fâtima den Krüppel wie er sie? Das konnte man unmöglich wissen. Wie eine Treibhausblume, die die brünstigen Geheimnisse des Pollens in den Feldern nicht kennt, hatte Fâtima in ihrer Entwicklung vom Kind zum Weibe Bewußtsein und Empfindungen in einer aseptischen, klösterlichen Welt zwischen Greisinnen gewonnen. Alles, was sie gesehen und gehört hatte, was in ihre Phantasie gelangte, war sorgfältig durch das moralische Sieb der Kongregation gefiltert (die unter den strengen die strengste war). Wie konnte diese Verkörperung der Tugend ahnen, daß das, was sie für das Eigentum Gottes hielt (die Liebe?), auch unter den Menschen gelten konnte?
Aber – Wasser, das von den Bergen rinnt, um den Fluß zu finden, Kälbchen, das, bevor es die Augen öffnet, das Euter findet, um die weiße Milch zu trinken – vielleicht liebte sie ihn. Auf jeden Fall war er ihr Freund, die einzige Person ihres Alters, die sie kannte, der einzige Spielgefährte, den sie hatte, wenn man die Arbeiten, das Fliesenkehren, Scheibenwischen, Pflanzengießen und Kerzenanzünden, die sie gemeinsam ausführten, während Maria Portal, die ausgezeichnete Näherin, den kleinen Nonnen die Geheimnisse ihrer Stickerei beibrachte, Spielen nennen konnte.
Die Kinder, später die Jugendlichen, sprachen jedenfalls in diesen Jahren viel miteinander. Unschuldige Dialoge – sie war unschuldig, er schüchtern –, in denen – Zartheit der Lilie und Geistigkeit der Taube – sie von Liebe sprachen, ohne sie zu nennen, während sie von ganz anderen Dingen redeten, wie die Farben der Sammlung von Heiligen bildchen von Schwester Fâtima, und Crisanto erklärte ihr, was Straßenbahnen, Autos, Kinos waren. All das wird für den, der hören will, in den Liedern von Maravillas erzählt, die jener geheimnisvollen Frau gewidmet sind, die er niemals erwähnt, außer in dem berühmten Vais mit dem Titel, der seine Verehrer so neugierig gemacht hat: »Fâtima ist die Jungfrau von Fâtima.«
Obgleich er wußte, daß er sie niemals aus dem Kloster herausholen und zur Seinen machen konnte, fühlte sich Crisanto Maravillas glücklich, wenn er seine Muse ein paar Stunden jede Woche sah. Aus diesem kurzem Zusammen sein ging seine Phantasie gestärkt hervor, und so entstanden die Mozamalas, die Yaravies, die Festgesänge und Schieber. Die zweite Tragödie seines Lebens (außer dem Krüppeldasein) ereignete sich an dem Tag, an dem die Oberin der Barfüßigen Schwestern ihn zufällig beobachtete, als er seine Blase entleerte. Mutter Lituma wechselte mehrmals die Farbe und bekam einen
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