Tante Julia und der Kunstschreiber
Geladenen mußten durch eine geheime Tür direkt in die oberen Stockwerke eingelassen werden, wo sie hinter uralten Balustraden zusammengedrängt standen, um das Schauspiel zu genießen.
Als der Barde um 6 Uhr nachmittags – Lächeln des Eroberers, dunkelblauer Anzug, elastischer Schritt, goldene Mähne, die im Wind wehte – von seinem Orchester und einem Chor begleitet hereinkam, brach eine Ovation los, die von den Gewölben des Klosters der Barfüßigen Schwestern widerhallte. Gumercindo Maravillas kniete nieder und stimmte im Bariton ein Vaterunser und ein Ave Maria an; seine (honigfarbenen?) Augen erkannten unter den Versammelten einige Bekannte. Dort saß in der ersten Reihe ein berühmter Astrologe, Prof. (Ezequiel?) Delfïn Acémila, der die Himmel durchforschte, die Gezeiten maß und kabbalistische pases zeigte und dabei das Schicksal der millionenschweren Damen der Stadt erkundete und der – Schlichtheit des Weisen, der mit Kugeln spielt – eine große Schwäche für die kreolische Musik hatte. Dort saß auch, ganz in Weiß, eine rote Nelke im Knopfloch und mit einem nagelneuen Strohhut, der populärste Neger von Lima, jener, der als blinder Passagier im Bauch eines Flugzeugs (?) den Ozean überquert und hier ein neues Leben begonnen hatte. (Er widmete sich dem bürgerlichen Zeitvertreib, Mäuse mit den in seinem Stamm typischen Giften zu töten, wodurch er reich geworden war –? –) Und – Zusammentreffen, das der Teufel oder der Zufall gesponnen hat – angezogen von ihrer gemeinsamen Bewunderung für den Musiker, erschienen auch der Zeuge Je-hovas Lucho Abril Marroqum, der durch eine Großtat – er schnitt sich mit einem scharfen Papiermesser den Zeigefinger der rechten Hand ab (?) – den Spitznamen Der Beschnittene gewonnen hatte, und Sarita Huanca Salaverria, die Schöne, Kapriziöse und Liebliche aus Victoria, die von ihm diese harte Probe als Liebesgabe gefordert hatte. Und stand nicht auch der miraflorinische Richard Quinteros wie blutleer in der kreolischen Menge? Er nutzte die Gelegenheit – einmal im Leben genügt vollauf –, daß sich die Türen des Klosters der Karmeliterinnen öffneten, und drang mit den anderen Leuten in die Zellen ein, um, und sei es auch nur von weitem, seine Schwester noch einmal wiederzusehen (Schwester Fâtima? Schwester Lituma? Schwester Lucïa?), die dort von ihren Eltern eingesperrt worden war, um sie von einer inzestuösen Liebe zu heilen. Und selbst die taubstummen Bergua, die niemals die Pension Colonial verließen, in der sie wohnten und sich der altruistischen Tätigkeit widmeten, armen Kindern ohne Gehör und Sprache beizubringen, wie sie durch Grimassen und Handbewegungen miteinander ins Gespräch kommen konnten, waren erschienen, von der allgemeinen Neugier angesteckt, das Idol Limas zu sehen (wenn sie es schon nicht hören konnten). Die Apokalypse, die die Stadt in Trauer versetzen sollte, begann, als Pater Gumercindo Tello den Gesang bereits angestimmt hatte. Vor Hunderten von hypnotisiert lauschenden Zuschauern, die in den Fluren, Patios, auf den Treppen und Dächern zusammengedrängt waren, sang der Lyriker von der Orgel begleitet die letzten Noten der wunderschönen Apostrophe: »Meine Religion ist unverkäuflich.« Die gleiche Salve von Applaus, die Pater Gumercindo belohnte – Gut und Böse, das sich mischt wie Kaffee mit Milch –, stürzte die Zuschauer ins Verderben, denn, hingerissen vom Gesang, dem Klatschen, Hurra- und Hochrufen hingegeben, verwechselten sie die ersten Anzeichen des Erdbebens mit der Erregung, die der Kanarienvogel des HErrn in ihnen hervorgerufen hatte. Sie reagierten nicht in Sekunden, in denen es noch möglich gewesen wäre, zu fliehen, hinauszurennen, sich in Sicherheit zu bringen. Als sie –vulkanisches Gebrüll, das die Trommelfelle zerplatzen läßt –merkten, daß nicht sie, sondern die Erde bebte, war es zu spät. Denn die drei einzigen Tore von Las Carmelitas – Zufall, Wille Gottes, Dummheit des Architekten – waren durch die ersten Einstürze blockiert, und der große Engel aus Stein, der über dem Haupttor stand, begrub den Wachtmeister Crisanto Maravillas unter sich, der, unterstützt von Hauptmann Jaime Con-cha und dem Polizisten Lituma, als das Erdbeben begann, versucht hatte, das Kloster zu evakuieren. Der mutige Bürger und seine beiden Adjutanten waren die ersten Opfer des unterirdischen Aufflackerns. So endeten – Kakerlaken, die ein Schuh zertritt – unter einer gleichgültigen Granitfigur in
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