Tante Lisbeth (German Edition)
galant die Hand, als er sie an den Wagen führte. Der Baron, der das Protokoll unterschreiben mußte, blieb ganz verdutzt zurück, allein mit dem Polizeikommissar. Als der Staatsrat unterzeichnet hatte, sah ihn der verschmitzt über seine Brillengläser hinweg an.
»Herr Baron, Sie lieben die kleine Dame sehr?«
»Zu meinem Unglück, wie Sie sehen.«
»Wenn Sie nun aber nicht geliebt«, versetzte der Kommissar, »sondern betrogen würden?«
»Davon habe ich eigentlich schon den Beweis, Herr Kommissar, und zwar ist diese Wohnung wiederum Zeugin. Wir haben uns darüber auch bereits ausgesprochen, Herr Crevel und ich ...«
»Ah, Sie wissen also, daß Sie sich hier in der Wohnung des Herrn Bürgermeisters befinden?«
»Gewiß!«
Der Kommissar lüftete leicht den Hut und empfahl sich dem alten Herrn.
»Sie sind sehr verliebt. Ich will lieber schweigen«, meinte er. »Ich sehe veraltete Leidenschaften ebenso ernst an wie die Ärzte veraltete Krankheiten. Ja, ja, so eine Leidenschaft ist genauso!«
»Was wollten Sie mir eigentlich noch sagen?« fragte der Staatsrat, den die unklare Anspielung verdroß.
»Warum sollte ich Ihnen Ihre Illusionen rauben? Es ist so selten, daß man in Ihrem Alter noch welche hat.«
»Befreien Sie mich davon!« rief der Staatsrat.
»Hinterher verwünscht man den Arzt«, meinte der Kommissar lächelnd.
»Ich bitte Sie darum, Herr Kommissar!«
»Also gut! Die Frau steckt mit ihrem Mann unter einer Decke!«
»Ach wo!«
»Herr Baron, das kommt unter zehn Fällen etwa zweimal vor. Ich sage Ihnen, unsereiner versteht sich darauf!«
»Welchen Beweis haben Sie dafür?«
»Zunächst einmal den Mann!« sagte der pfiffige Polizeikommissar mit der Ruhe eines Wundarztes, der es gewöhnt ist, zu amputieren. »Die Spekulation steht klar und deutlich auf seiner ausgemergelten ekelhaften Visage geschrieben. Sagen Sie, ist Ihnen nicht viel an einem gewissen von dieser Dame an Sie gerichteten Briefe gelegen, in dem von dem Kinde die Rede ist?«
»Gewiß! Der Brief ist mir so wert, daß ich ihn immer bei mir trage«, antwortete Baron Hulot dem Polizeikommissar und suchte nach dem kleinen Brustbeutel, um den Brief herauszuholen.
»Bemühen Sie sich nicht erst!« versetzte der Kommissar im kalten Ton eines Staatsanwalts. »Der Brief ist hier! Jetzt weiß ich alles, was ich wissen wollte. Frau Marneffe muß also gewußt haben, wo Sie den Brief hatten!«
»Sie allein in der Welt.«
»Das dachte ich mir. Sehen Sie, da haben wir ja den Beweis, den Sie von mir über das Komplott der beiden in dieser Affäre verlangen!«
»Wieso?« fragte der Baron noch ungläubig.
»Als wir ankamen, Herr Baron«, erzählte der Kommissar, »da ist der elende Marneffe zuerst eingetreten und hat den Brief rasch an sich genommen, den seine Frau ohne jeden Zweifel hier hingelegt hatte...« Dabei zeigte er auf den Vertiko. »Offenbar ist diese Stelle zwischen Mann und Frau vorher vereinbart worden, für den Fall, daß es ihr überhaupt gelingen werde, Ihnen während des Schlafes den Brief zu stehlen. Dieser Brief, den die Dame an Sie gerichtet hat, ist zusammen mit denen, die Sie ihr geschrieben haben, bei dem bevorstehenden Strafprozeß von entscheidender Bedeutung.«
Der Kommissar zeigte Hulot den Brief, den der Baron in seinem Geschäftszimmer im Ministerium durch Valeries Kammermädchen erhalten hatte.
»Er gehört zu den Akten, Herr Baron. Geben Sie ihn mir wieder«, sagte der Kommissar.
»Sie haben recht, Herr Kommissar!« sagte Hulot mit verzerrtem Gesicht. »Diese Frau ist eine regelrechte Dirne. Ich bin jetzt gewiß, daß sie drei Liebhaber hat!«
»Ich glaube auch«, sagte der Polizeikommissar. »Ja, es gibt nicht bloß Straßendirnen! Der ganze Unterschied ist der, daß es sich bei denen, die ihr Handwerk zu Wagen, in den Salons oder in ihrem eigenen Hause betreiben, nicht bloß um ein paar Francs handelt. Manche kosten Millionen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Herr Baron, machen Sie sich von ihr frei! Das ist natürlich kein leichtes Stück Arbeit! Der Schuft von einem Mann hat das Gesetz auf seiner Seite ...«
»Ich danke Ihnen, Herr Kommissar«, sagte der Staatsrat, indem er versuchte, eine würdevolle Haltung zu bewahren.
»Herr Baron, wir werden die Wohnung schließen. Der Spaß ist zu Ende. Den Schlüssel händigen Sie wohl dem Herrn Bürgermeister selbst ein?«
Hulot kam in tiefster Niedergeschlagenheit nach Hause, völliger Ohnmacht nahe und in die düstersten Gedanken verloren. Er
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