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Tante Lisbeth (German Edition)

Tante Lisbeth (German Edition)

Titel: Tante Lisbeth (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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liebt. Und die arme Adeline wähnte, ihren lieben Hektor zurückgewonnen zu haben!
    Das vierte Stelldichein war im letzten Augenblicke des dritten bestimmt worden. Die festgesetzte Stunde war neun Uhr morgens. Am Zahltage dieses Glückes, in dessen Erwartung dem leidenschaftlichen Greis das Familienleben erträglich wurde, ließ Valeries Kammermädchen früh um acht Uhr den Baron herausbitten. Hulot, der eine Katastrophe befürchtete, ging hinaus. Das Mädchen übergab dem Baron folgenden Brief:
    »Lieber alter Brummbär!
    Komme nicht in die Rue du Dauphin. Unser Drache ist krank, ich muß ihn pflegen; aber sei heute abend dort, um neun Uhr. Crevel ist in Corbeil bei Herrn Lebas; ich bin gewiß, daß er heute keine Prinzessin in sein Nestchen bringt. Ich habe hier alles so eingerichtet, daß ich die Nacht für mich habe. Ich muß nur zurück sein, ehe Marneffe aufwacht. Antworte mir ausführlich! Hoffentlich läßt Dir Dein Klageweib die Freiheit wie ehedem. Sie soll übrigens noch ganz hübsch sein. Wer weiß, ob du nicht auch mit ihr wieder etwas hast! Am Ende betrügst Du mich gar mit ihr, Du ewiger Genießer! Verbrenne meinen Brief! Ich bin sehr mißtrauisch geworden.«
     
    Hulot schrieb die folgende kurze Antwort:

»Mein Herzchen!
    Niemals seit fünfundzwanzig Jahren hat meine Frau, wie ich Dir bereits gesagt habe, mein Vergnügen gestört. Ich würde Dir hundert Adelinen opfern. Heute abend neun Uhr bin ich also im Tempel Crevel und erwarte meine Göttin. Möchte der Herr Sekretär nur bald abfahren! Dann wären wir nicht mehr getrennt. Das ist der sehnsüchtigste Wunsch Deines
    Hektor.«
     
    Am Abend sagte der Baron zu seiner Frau, er hätte mit dem Minister in Saint-Cloud zu arbeiten und käme erst um vier oder fünf Uhr morgens zurück. In Wahrheit ging er nach der Rue du Dauphin.
    Die Juninacht ging zu Ende. Es war fünf Uhr. Der Baron erwachte in Crevels elegantem Bette. Neben ihm lag Valerie. Sie schlief, entzückend hingestreckt, schön, wie just Frauen, die auch im Schlafe schön sind.
    Wie Hulot so dalag, glitten seine Blicke zufällig nach der mit Blumen bemalten Tür. Es kam ihm mit einem Male vor, als murmelten dahinter Stimmen. Er blieb liegen, aber kalter Schweiß überströmte ihn. Er wollte zweifeln, aber die Stimmen flüsterten wieder.
    Wenn es wenigstens nur Crevel wäre, der sich einen faulen Witz mit mir macht! dachte er bei sich, als er nicht mehr an der Anwesenheit fremder Personen im »Tempel« zweifeln konnte.
    Die Tür tat sich auf, und das Gesetz zeigte sich in der Gestalt eines liebenswürdigen kleinen Polizeikommissars und eines baumlangen Friedensrichters. Die beiden waren in Begleitung des ehrenwerten Marneffe. Der Polizeikommissar, ein Mann mit gelbem Gesicht und spärlichem Haar, sah wie ein listiger lustiger Fuchs aus, für den Paris keine Geheimnisse mehr besitzt. Seine bebrillten Augen blitzten mit schlauen spöttischen Blicken durch die Gläser. Der Friedensrichter, ein ehemaliger Rechtsanwalt, ein alter Anbeter des schönen Geschlechts, sah neidisch auf den Übertreter der Gesetze.
    »Herr Baron, entschuldigen Sie, bitte, die Härte unseres Standes!« sagte der Kommissar. »Wir sind von diesem Herrn Kläger hier gerufen worden. Der Herr Friedensrichter da hat der Angelegenheit beizuwohnen. Ich weiß, wer Sie sind und wer die schuldige Dame.«
    Valerie schlug erstaunt die Augen auf und stieß jenen durchdringenden Schrei aus, den die Schauspielerinnen erfunden haben, um auf der Bühne den Wahnsinn darstellen zu können. Sie wand sich in Zuckungen auf dem Bett wie im Mittelalter eine Hexe in ihrem Schwefelhemd auf dem Scheiterhaufen.
    »Eher tot, lieber Hektor! Nur nicht die Sittenpolizei! Niemals!«
    Sie sprang auf, flog wie eine weiße Wolke zwischen den drei Zuschauern hindurch und duckte sich in einen Lehnsessel, den Kopf in den Händen verbergend.
    »Verloren! Tot!« jammerte sie.
    »Mein Herr!« herrschte Marneffe den Baron an, »wenn meine Frau verrückt wird, dann sind Sie nicht bloß ein Wüstling, sondern ein Mörder!«
    Was soll ein Mann tun oder sagen, der in einem Bett überrascht wird, das ihm nicht einmal gehört, nicht einmal mietweise, und das mit einer Frau, die ihm erst recht nicht gehört?
    »Herr Friedensrichter, Herr Polizeikommissar«, sagte der Baron mit Würde, »haben Sie die Güte, sich etwas um diese unglückliche Dame zu kümmern, die mir den Verstand zu verlieren scheint! Das Protokoll nehmen Sie nachher auf. Zweifellos sind die Türen

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