Tante Lisbeth (German Edition)
Tod!«
Der junge Hulot betrachtete seinen Schwiegervater nachdenklich. Dem Pietisten ging es wie eine leise Ahnung auf. Ist fester Glaube, fragte er sich, gleichviel welcher Art, nicht am Ende immer die Quelle wahrer Seelengröße?
Wenige Tage darauf war Frau Crevel unter unerhörten Schmerzen gestorben; achtundvierzig Stunden später folgte ihr Crevel, der später als sie von der Krankheit ergriffen worden war. Durch diese Reihenfolge war Crevel Erbe seiner Frau gewesen; dadurch verlor der Ehevertrag seinen Wert, demzufolge Valerie, im Falle Crevel früher als sie stürbe, als Universalerbin eingesetzt war.
Bereits am Tage nach Crevels Begräbnis stellte sich der geheimnisvolle Bettelmönch wieder ein. Viktor empfing ihn, ohne ein Wort zu sprechen. Ebenso stumm nahm der Fremde die fünfzig Tausendfrancsscheine entgegen, die der Anwalt der in Crevels Schreibtisch vorgefundenen Summe entnommen hatte. Cölestine Hulot war Erbin des Landgutes und einer Jahresrente von dreißigtausend Francs. Valerie hatte dem Baron Hektor von Hulot dreihunderttausend Francs vermacht. Der Enkel des Barons, der kleine Steinbock, erbte das Palais Crevel und achtzigtausend Francs Rente. Frau Crevel hatte eine Anzahl kirchlicher und gemeinnütziger Legate ausgesetzt.
Als die Baronin wieder ganz hergestellt war, nahm sie ihre barmherzige Tätigkeit von neuem auf. Einer ihrer ersten Ausgänge führte sie in das unheimliche, damals noch stehende Stadtviertel Petite-Pologne, das zwischen der Rue du Rocher, der Rue de la Pepiniere und der Rue Miromenil lag. In der ärmlichen und gefährlichen Gegend wohnten damals – im Juni 1844 – die letzten öffentlichen Schreiber, die es in Paris gab. Es war das ein Beweis, daß das Viertel zahlreiche Analphabeten barg, mithin eine Heimstätte von Elend, Laster und Verbrechertum war. Während der Krankheit der Baronin hatte sich hier in der düstern Passage du Soleil ein neuer Schreiber niedergelassen, angeblich ein Deutscher, Wieder mit Namen. Er lebte in wilder Ehe mit einem jungen Mädchen, auf das er dermaßen eifersüchtig war, daß er es nur mit einer einzigen Familie verkehren ließ, der eines Ofensetzers. In Paris waren seit Jahrzehnten alle Ofensetzer Italiener; so auch dieser, dessen Familie durch die Baronin vor dem unvermeidlichen Untergang – auf Rechnung des Wohltätigkeitsvereins – gerettet worden war. Wenige Monate nach der unerwartet gekommenen Hilfe aus der Not erfreute sich der Ofensetzer bereits eines gewissen Wohlstandes dank der den italienischen Arbeitern eigenen Beharrlichkeit.
Einen ihrer ersten Besuche widmete die Baronin dieser Familie, die in der Rue Saint-Lazare, nahe der Rue du Rocher, wohnte. Man empfing sie, als sei sie die Madonna, und zeigte ihr zu ihrer Freude die inzwischen eingetretenen glücklichen Veränderungen im Laden, in der Werkstatt und der jetzt recht nett aussehenden Wohnung. Nachdem sich Adeline nach dem Geschäftsgang und dem Familienleben erkundigt hatte, benutzte sie wie überall die Gelegenheit, nach Hilfsbedürftigen, Unglücklichen und Kranken zu forschen, die den Leuten zufällig bekannt wären.
»Ja, Madame«, sagte die Italienerin, »es gibt da immer irgendwo zu helfen. Ganz nahe von uns wohnt zum Beispiel ein junges Mädchen, das man wirklich aus dem Elend retten sollte...«
»Kennen Sie das Mädchen näher?« fragte die Baronin.
»Es ist die Enkelin von dem ehemaligen Meister meines Mannes. Der war nach der Revolution, so um 1798, nach Frankreich gekommen. Judici hieß er. Er war einer der ersten Ofensetzer hier in Paris. 1819 ist er gestorben und hat seinem Sohne ein hühsches Vermögen hinterlassen. Aber der junge Judici hat all sein Geld mit liederlichen Frauenzimmern durchgebracht, und die allerliederlichste, die hat er schließlich geheiratet. Von der stammt das Mädel. Fünfzehn Jahre ist es alt...«
»Und wieso geht es dem Mädchen schlecht?« fragte die Baronin. Die Charakterähnlichkeit jenes Italieners mit ihrem Manne ergriff sie in eigentümlicher Weise.
»Das ist so, gnädige Frau: Die Kleine – Itala heißt sie – ist ihren Eltern weggelaufen und lebt nun bei einem alten Manne, einem Deutschen, der mindestens seine achtzig Jahre alt ist. Er nennt sich Wieder. Er ist Schreiber und besorgt den Leuten, die nicht schreiben und lesen können, alles mögliche. Man munkelt, der verliebte Alte habe das Mädchen der Mutter für ein paar hundert Taler abgekauft. Der Alte soll Geld haben. Wenn er da wenigstens das arme junge Ding
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