Tante Lisbeth (German Edition)
geworden war. Wähnt man nicht auch in den Augen der Löwen hinter den Gittern im Zoologischen Garten eine Wüstenlandschaft zu sehen? Die Zwangsarbeit, die Lisbeth von ihm verlangte, befriedigte seine Künstlersehnsucht nicht. Seine Mißstimmung wandelte sich in körperliche Krankheit, und er siechte dahin. Er wußte nicht, wie er sich das Geld zu den ihm notwendigen Dummheiten verschaffen könne. Manchmal, wenn die Energie in ihm wach wurde und das Bewußtsein seines Elends seine Verzweiflung noch erhöhte, stand er Lisbeth gegenüber wie etwa der verschmachtende Wanderer in wasserarmer Gegend vor einem Salzwasserquell. Sie aber genoß die bitteren Früchte der Armut und Zurückgezogenheit wie Freuden. Mit Angst dachte sie daran, daß ihr die erste beste Leidenschaft ihren Sklaven entführen könne. Manchmal bereute sie sogar, diesen Träumer durch Tyrannei und Vorwürfe gezwungen zu haben, ein großer Meister der Kleinkunst zu werden, und ihm damit den Weg gezeigt zu haben, wie er einmal ohne sie weiterkommen könne.
Als der Staatsrat das Opernhaus betreten wollte, fand er zu seinem Erstaunen den Musentempel in der Rue le Peletier unerleuchtet. Nirgends waren Schutzleute, Bediente usw. zu erblicken; nirgends das sonst andrängende Publikum. Er sah sich nach einem Anschlag um und las auf dem weißen Zettel:
»Wegen Unpäßlichkeit von Mademoiselle Josepha Mira fällt die heutige Vorstellung aus.«
Sofort stürzte er zu Josepha, die wie alle Mitglieder der Oper in der Nähe, in der Rue Chauchat, wohnte.
»Zu wem wollen Sie, mein Herr?« fragte der Pförtner zu Hulots großem Erstaunen.
»Kennen Sie mich denn nicht mehr?« fragte der Baron. Er fing an, unruhig zu werden.
»Im Gegenteil, gerade weil ich die Ehre habe, den Herrn Baron zu kennen, erlaube ich mir die Frage.«
Den Baron durchzuckte es eiskalt.
»Was ist geschehen?« fragte er.
»Wenn der Herr Baron in Fräulein Miras Wohnung hinaufginge, so würde er daselbst Fräulein Heloise Brisetout antreffen, Herrn Bixiou, Herrn Leon von Lora, Herrn Lousteau, Herrn von Vernisset, Herrn Stidmann und mehrere nach Patschuli duf- tende Damen. Man hält Einzugsschmaus ...«
»So? Aber wo ist denn ...?«
»Fräulein Mira, Herr Baron? Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen darf.«
Der Baron drückte dem Manne einen Taler in die Hand.
»Hm! Sie wohnt jetzt in der Rue de la Ville-l'Evêque, in einem Haus, das ihr der Herzog von Hérouville eingerichtet hat«, berichtete der Portier im Flüstertone.
Nachdem er sich noch nach der Nummer dieses Hauses erkundigt hatte, nahm der Baron eine Droschke und war alsbald vor einem jener hübschen neumodischen Häuser angelangt, die bis in die Einzelheiten den höchsten Luxus offenbaren.
Der Baron wurde in seinem blauen Rocke, der weißen Krawatte, der weißen Weste, seinem Nanking-Beinkleid, den Lackstiefeln und dem steif gestärkten Hemd von dem Hüter dieses neu geschaffenen Paradieses für einen verspäteten Gast gehalten. Sein vornehmes Äußere, sein Gang, alles rechtfertigte diese Annahme. Auf das Läuten des Pförtners erschien ein Diener im Treppenhaus. Selbiger, ebenso neu wie das Haus, ließ den Baron eintreten, da dieser ihm im Befehlstone und mit einer Imperatorengeste auftrug: »Diese Karte Fräulein Josepha!«
Unwillkürlich, in Armesünderstimmung, blickte sich Hulot um und stellte fest, daß die Ausstattung dieses über und über mit teuren Blumen geschmückten Empfangszimmers gut viertausend Taler gekostet haben mochte. Der Diener kam zurück und bat ihn, einstweilen Platz zu nehmen; die Herrschaften würden sogleich vom Tische aufstehen und den Kaffee hier einnehmen.
Der Baron hatte den Luxus des Empire miterlebt, der gewiß verschwenderisch war und dessen Schöpfungen, so kurz ihre Zeit auch bemessen war, doch fabelhafte Summen gekostet hatten. Trotzdem stand er wie geblendet vor diesem Salon, dessen drei Fenster nach einem wahren Feengarten zu lagen. Dabei bewunderte er nicht nur das Seltene, die Goldpracht, die kostbaren Skulpturen im Stile der Pompadour und die wundervollen Stoffe – das alles konnte ja schließlich auch der erste beste Kommerzienrat für Berge von Gold bestellen und besitzen –, sondern noch etwas anderes, etwas, was nur Fürsten finden, aussuchen, bezahlen und schenken können: zwei Gemälde von Greuze, zwei von Watteau, zwei Porträts von van Dyck, zwei Landschaften von Ruisdael, zwei von Guaspre, einen Rembrandt und einen Holbein, einen Murillo und einen Tizian, zwei
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