Tanz der Engel
Schlaf braucht, und zeigt ihr gerade die Sicherheitsvorkehrungen im Verlies. Du hast also nicht allzu viel Zeit, um zu lernen, wie du deine Flügel benutzt – wobei deine Verletzungen nicht mehr als einen Gleitflug zulassen. Außerdem müssen Engel wie wir das Fliegen erst lernen.«
»Und warum ausgerechnet jetzt? Damit ich nicht ungebremst abstürze, wenn ich über die Slackline muss?«
Zärtlich tippte Christopher mir mit dem Zeigefinger auf die Nase. »Das wirst du nicht«, versprach er, nahm meine Hand und balancierte mit mir über die rutschigen Ziegel hoch zum Dachfirst.
Unter uns lag der schneebedeckte Schlossgarten mit seinen knorrigen, mistelbewachsenen Bäumen und den kahlen, weißgezuckertenRosenbäumchen. Dahinter die Steinmauer und der See, der die Farbe des schwarzen Himmels widerspiegelte. Die Nacht war kalt. Ihre Dunkelheit lähmte mich – und vielleicht auch die Angst, zu versagen. Selbst Nawea hielt mich für schwach, obwohl Aron ihr nur meine Stärken präsentiert hatte. Christopher entging nicht, dass ich wieder zitterte.
»Wovor fürchtest du dich?«
»Vor morgen – und den Prüfungen«, gab ich zu.
»Du bist erst seit kurzer Zeit ein Engel. Sie werden dir, wie jedem Jungengel im ersten Jahr, einen erfahrenen Engelschüler zur Seite stellen. Denn im Grunde geht es bei der ersten Prüfung nur darum, zu sehen, wie teamfähig du bist.«
»Und wenn ich das nicht bin? Wenn ich austicke, weil mir etwas Dämonisches über den Weg läuft? Was glaubst du, wie teamfähig ich als Monsterengel wohl sein werde?«
»Wie ein Quarterback. Du wirst dein Team stützen – als Engel.«
»Und wieso bist du dir da so sicher?«
Christophers Miene verhärtete sich. »Weil Aron dich mehr als ausreichend getestet hat und du selbst dann noch menschlich geblieben bist, als du dem boshaftesten Wesen von allen widerstehen musstest.«
Christopher sprach von sich. Die Erinnerung an seine Schattengestalt jagte mir ein Frösteln über den Rücken. Er bemerkte es und trat einen Schritt zurück. Ich folgte ihm, schlang die Arme um seinen Hals und näherte mich seinen Lippen.
»Ich habe gesehen, was du bist, und weiß, dass du mir niemals etwas antun wirst.«
Obwohl er mir nicht glaubte, akzeptierte Christopher meine Umarmung. Als das Dach unter mir sich zu drehen begann, öffnete er sich, zog mich in seine Arme und hielt mich fest.
»Spürst du die Energie deiner Engelsseele?«
Ich nickte. Sie wanderte gerade von mir zu ihm.
»Zieh sie zurück und konzentriere dich auf deine Flügel. Denk daran, wie es war, mit mir über den See zu fliegen, dann werden sie ganz von selbst erscheinen.«
Die Vorstellung, von Christopher gehalten durch den Wind zu gleiten, war berauschend. Ich sah die Sonne über dem See aufgehen, roch die Frische des Morgens, doch die Erinnerung reichte nicht, um mir Flügel wachsen zu lassen. So sehr ich mich auch anstrengte – sie blieben verschwunden! Christopher seufzte und schob mich von sich.
»Ich hatte gehofft, es würde reichen. Offenbar liege ich dieses Mal falsch.« Er strich eine Strähne beiseite, die mir der Wind ins Gesicht geweht hatte, und bemühte sich zu lächeln. »Also bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich schubse dich vom Dach und hoffe, oder deine Erinnerung an den Absturz ist stärker als die an unseren gemeinsamen Flug.«
»Das ist nicht fair«, protestierte ich und presste frustriert meine Lippen zusammen.
»Das weiß ich«, erwiderte Christopher und hauchte mir einen Versöhnungskuss auf den Mund. »Denk einfach nur an den Absturz.«
Trotz oder vielleicht gerade wegen des Schwindelgefühls durch Christophers Kuss fiel es mir nicht schwer, die Panik wiederaufleben zu lassen. Als ich den Abgrund fühlte, jagte pure Angst durch meine Adern und riss die Energie meiner Engelsseele mit sich. Ich zog sie zurück und wünschte mir Flügel. Meine Beine gaben nach. Mein Rücken brannte, als stände er in Flammen.
Christopher packte meine Schultern und stützte mich, bis der Schmerz sich beruhigt hatte und nur noch das Gewicht der gigantischen Schwingen an mir zerrte. Vorsichtig ließ er mich los.
Ich schwankte. Der Ballast an meinem Rücken war ungewohnt und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Doch Aron hatte mich nicht umsonst Sandsäcke stemmen und über dieSlackline laufen lassen. Wackelig, aber auf meinen eigenen Beinen, stand ich am höchsten Punkt des Schlosses und drückte meine mit einem energiegeladenen Band an meinen Körper gebundenen Flügel der
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