Tanz der Engel
Eingangshalle. Auf der Treppe überholte ich sie. Meine Turnschuhe waren zwar nicht so schön wie ihre High Heels, dafür aber ungemein praktisch. Dank meiner Routine vergrößerte ich den Abstand beim Kaminrunterklettern – ich wusste genau, wo ich den besten Halt fand. Bis zur Slackline lag ich in Führung – erst da begann mein Problem: Zu viele Gesichter starrten mir entgegen, feuerten mich an und erwarteten euphorisch meinen Sieg.
Ich schwankte, als ich das Seil betrat. Sieh nicht nach unten , redete ich mir Mut zu. Doch schneller als im Schneckentempo war nicht drin. Jeder Schritt kostete mich Überwindung. Beim Burggraben ging nichts mehr. Wie angeklebt stand ich mit weichen Knien auf dem schmalen Band – Nawea hatte mich längst überholt. Sie wartete am Ende des zweiten Seils, beobachtetemich und schrieb fleißig in ihr Notizpad, das sie aus ihrer Jackentasche gezaubert hatte.
Mein Blick glitt erneut in die Tiefe. Der dunkle Burggraben rief nach mir. Die Menge verstummte. Nur noch mein Keuchen war zu hören – und Christophers stummes Du kannst das! Seine Augen leuchteten warm und voller Zärtlichkeit. Er glaubte an mich. Seine Zuversicht stärkte mein angeschlagenes Selbstvertrauen. Spät, aber euphorisch, erreichte ich das Dach – noch war nichts verloren, das Ziel am anderen Ende.
Ich spurtete los, den Dachfirst entlang. Die Flagge, die Aron gesteckt hatte, würde ich als Erste erreichen. Nawea jagte mir hinterher.
»Das Spiel ist noch nicht zu Ende«, murmelte sie, so dass nur ich es hören konnte.
Bevor ich begriff, was sie damit meinte, stolperte sie, ließ sich fallen, schlitterte auf mich zu und rammte mir ihre spitzen Absätze gegen die Knöchel. Meine Beine knickten weg, ich verlor den Halt und rutschte das steile Dach hinunter. Wie auf einer Rodelbahn schoss ich auf die Dachkante zu. Mein Rücken begann zu brennen. Meine Flügel drängten nach außen. Ich riss mich zusammen. Genau sie waren es, die Nawea nicht sehen durfte.
Meine Hände verfehlten die Dachrinne. Ungebremst stürzte ich in die Tiefe. Der Aufprall würde hart sein, doch ich hatte schon Schlimmeres überlebt. Was waren schon zehn Meter für einen Engel? – Ungeheuer schmerzhaft!
Aron war als Erster bei mir, kurz nach ihm, bis zur Unkenntlichkeit vermummt, Christopher.
»Kannst du aufstehen?«, fragte Aron.
Ich presste ein »Ja« zwischen den Lippen hervor und biss weiter meine Zähne zusammen, während ich vergeblich versuchte, auf die Beine zu kommen.
Bevor Christopher den Fehler machen und mich in die Armenehmen konnte, kam Aron ihm zuvor. In seiner Engelsgestalt trug er mich ins Schloss, begleitet von Christophers besorgten Blicken und Naweas Beteuerungen, wie leid ihr das Missgeschick tat. Außer Christopher, Aron und mir glaubten alle ihre bescheuerte Story.
Engel waren zäh. Nach zwei Stunden fühlte ich mich besser. Aron bestand darauf, dass ich die Schwächliche mimte, und verordnete mir Bettruhe. Das Warten zahlte sich aus. Nach ein paar weiteren Notizen verabschiedete sich Nawea am nächsten Tag und verließ die Engelschule.
Meine Glückssträhne hielt nicht lange an. Die Weihnachtsferien auf dem Internat neigten sich dem Ende zu. Aron schickte mich zurück zur Schule, und mein aufreibendes Doppelleben holte mich wieder ein. Vielleicht hätte ich die körperliche Belastung durch das anstrengende Training und die geistige Herausforderung dank Extra-Lernstunden noch ausgehalten. Auch die eisige Kälte und den vielen Schnee in meiner Welt hätte ich ertragen. Doch dass Christopher sich weiterhin um Hannah kümmerte und mich links liegen ließ – selbst um den See laufen musste ich inzwischen allein –, verkraftete meine Seele nur bedingt. Zwar wusste ich, dass alles nur Show war, um Raffael – und damit Sanctifer – im Unklaren über meine und Christophers Beziehung zu lassen, weh tat es trotzdem. Dass ausgerechnet Raffael mir in der schlimmsten Stunde zur Seite stand, war sicher kein Zufall.
Ich hatte mich mit Florian, Juliane – und natürlich Raffael – am See zum Schlittschuhlaufen verabredet. Herr Müller hatte sich eine Bronchitis eingefangen, weshalb Geo ausfiel. Raffael und ich warteten bei der Steinmauer am See, Florian und Juliane – wie ich später erfuhr – unten am Steg. Wo Christopher die Freistunde verbrachte, erfuhr ich erst, als ich – dank meiner Neugier und Hannahs gurrendem Gekicher – über die Mauer schaute.
Ihre Arme um Christophers Hals geschlungen, presste sie ihren
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