Tanz der Engel
kann. Aber wenn du tot bist …« Raffael wirkte unsicher. Entweder er wusste es nicht, oder es steckte mehr dahinter. »Und da sicher niemand einem Racheengel traut, der die Gesetze überschreitet, prüfen sie anscheinend nicht nur, wer an deinem Seelenzustand die Schuld trägt, sondern auch, wer sich jetzt um dich kümmern soll.«
»Sie verschachern meine Seele?!«
»Wenn du es so nennen willst.«
»Kann ich nicht selbst entscheiden, wem ich mein Vertrauen schenke?«
»Dazu müsstest du Zugang zur Engelswelt haben und einen Engel finden, der dir sein Blut gibt, damit deine Seele in ihrer Welt bestehen kann.«
»Und sicher wäre Sanctifer bereit dazu.« Für wie blöd hielt mich Raffael eigentlich?
»Das weiß ich nicht – aber ich kann es mir vorstellen.«
Die Grenze meiner Gutgläubigkeit war überschritten, der Flüsterer eindeutig zu weit gegangen. Mir Sanctifer als Blutspender unterzujubeln, überstieg seine Überredungskünste.
»Ich glaube dir kein Wort! Und das mit deiner rührenden Verbrennungsgeschichte hast du sicher auch nur erfunden, um mich weichzukochen.«
»Wie du meinst.« Langsam erhob sich Raffael und baute sich mit seiner eindrucksvollen Größe vor mir auf. Ebenso langsam zog er sich sein T-Shirt über den Kopf.
Mir stockte beunruhigend schnell der Atem – nicht wegen der perfekt geformten Muskelmasse seines Oberkörpers oder der bronzefarbenen Haut, die sich darüber spannte, sondern wegen der, die fehlte.
Um die Stelle, wo Raffaels Bauchnabel sein sollte, wucherte rohes Fleisch. Dank der Jeans konnte ich nicht das volle Ausmaß erkennen, doch was ich sah, genügte, um spontane Übelkeit mit Würgereiz bei mir hervorzurufen. Ungläubig starrte ich ihn an: sein perfekt modelliertes Gesicht und dann wieder den entstellten Körper, der gerade sein Geheimnis preisgab.
Vor meinen Augen begann das Narbengeflecht sich zu verändern. Wie eine schlafende Schlange wickelte sich ein hautloses Tier auseinander und begann, sich zu winden: überzog Raffaels Brust, seine Schultern und schlängelte sich weiter nach oben, über seinen Hals, den Nacken entlang, bevor es sich von hinten auf sein Gesicht legte.
Ich unterdrückte einen Aufschrei und zwang mich, nicht zurückzuweichen.
»So sehe ich aus, wenn ich Sanctifers Zauber nicht trage. Ich verdanke ihm nicht nur mein Leben.«
Trotz der abstoßenden Hässlichkeit erkannte ich Raffael in der Kreatur wieder, die mir gegenüberstand. Auch wenn sein Äußeres jeden Reiz verloren hatte, seine Stimme war dieselbe geblieben, nur dass jetzt ein tiefer Schmerz in ihr mitschwang. Wie viel Willenskraft musste in ihm stecken, um eine Kindheit als Monster ertragen zu können?
Ich fand die Antwort in Raffaels Augen. Sie glommen nachtschwarz von seinen Erinnerungen und schimmerten doch voller Stärke. Er wusste, wer und was er war. Aber die anderen hatten immer nur das Ungeheuer in ihm gesehen.
Mir schauderte bei dem Gedanken an Raffaels Vergangenheit. Dagegen waren meine Eingewöhnungsschwierigkeiten in Italien das Paradies auf Erden gewesen.
Die fleischige Narbengeschwulst, die Raffaels Körper verunstaltete, war zur Ruhe gekommen. Das Heben und Senken seines Brustkorbs beim Atmen hinterließ jedoch den Eindruck, als lebe sie. Wie ein eigenständiges Wesen, in dem er gefangen war.
Ich blinzelte, um das Trugbild loszuwerden. Es half – ein wenig. Immer wenn Raffaels Atmung pausierte, sah ich anstatt des Geschwürs seinen glatten, von Muskeln durchzogenen Oberkörper. Vorsichtig streckte ich meine Hand nach ihm aus. Die sich aufrichtenden Härchen auf meinem Arm verrieten meine Gefühle: Furcht und gleichzeitig den Wunsch, ihn zu berühren. Es war wie ein Zwang, ihn anfassen zu müssen, um sicher zu sein, dass das, was ihn umgab, nicht wirklich lebte.
Kurz bevor ich es berührte, schien die Luft um uns herum dicker zu werden, als materialisiere sich die Anspannung zwischen uns. Sie entlud sich in dem Augenblick, in dem meine Hand auf Raffaels Fleisch traf. Tausend haarfeine Blitze zuckten durch meine Fingerspitzen, meinen Arm entlang, verteilten sich über meinen Körper und verwurzelten sich tief unter meiner Haut.
Ich wusste, dass ich meine Hand zurückziehen sollte; sah Raffaels narbenübersäte Gestalt, die vor ein paar Minuten noch Übelkeit in mir ausgelöst hatte. Dennoch konnte ich nicht anders: Ich schloss die Augen – und fühlte. Genoss das Prickeln in meinem Inneren und die vibrierende Luft, die mich umhüllte. Erst als sich Raffaels
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