Tanz der Engel
ich kaum. Sonst würde er auf ein Jungeninternat gehen anstatt mit Hannah aufs Zimmer.« Mein Tiefschlag zeigte Wirkung – in Julianes Pupillen blitze wieder Rachsucht auf.
»Wenigstens war Florians Flirttechnik erfolgreich. Auch wenn er noch nicht in ihrem Zimmer war, konnte er ihr zumindest einen heißen Begrüßungskuss entlocken.«
»Was?!«, fragten Marisa und ich gleichzeitig.
»Hinterm Bootsschuppen. Ich hab’s selbst gesehen.«
»Obwohl sie beim Abendessen auf Raffaels Schoß saß?! Entweder kann Hannah sich nicht entscheiden, oder sie liebt es abwechslungsreich«, sprach Marisa meine Gedanken laut aus. Hoffentlich behielt wenigstens Florian seine Gefühle unter Kontrolle und verliebte sich nicht in das unersättliche Biest.
Nach einer halbdurchwachten Nacht – viel zu oft hatte ich von Engelsflügeln geträumt – brauchte es zwei Tassen Kaffee und ebenso viele Schulstunden, bis ich einigermaßen klar denken konnte. Doch schon bei der Schulversammlung fühlte ich mich wieder wie ausgelaugt und konnte mein Gähnen kaum unterdrücken.
»Schlaf lieber während des Unterrichts«, flüsterte Marisa. »Und nicht, wenn du etwas über die scharfen Typen erfahren kannst, die seit kurzem unser Internat stürmen.«
»Schon wieder ein Neuer?«, fragte ich gelangweilt.
»Ja. Und laut Juliane ’ne richtig scharfe Schnitte.«
Ich zuckte zusammen. Mein Verdacht, dass Raffael Verstärkung bekommen hatte, gefiel mir nicht.
»Raffaels Zwillingsbruder?«
»Eher nicht. Zumindest soll er keinen Akzent haben. Außerdem ist er blond.«
Mir drehte sich der Magen um bei dem Bild, das sich vor meinem inneren Auge abzeichnete. War Sanctifer so einfältig und versuchte jetzt, mir eine Christopherkopie unterzujubeln, nachdem sich sein Flüsterer als unbrauchbar erwiesen hatte?
Ich suchte nach dem großgewachsenen Raffael. An seiner Seite stand Hannah. Neben ihr Florian und nicht weit davon entfernt der kleine, kompakte Max, unser gemeinsamer Freund. Zu meiner Verwunderung schenkte Raffael Florians hautnaher Kontaktaufnahme mit Hannah keine große Beachtung. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er in den Flur, durch denFrau Germann gerade Richtung Aula schritt. Doch seine Aufmerksamkeit galt nicht unserer Rektorin, sondern dem Schüler hinter ihr.
Mein Herz setzte aus, schlug schneller und setzte noch einmal für einen endlos langen Moment aus, als Christophers smaragdgrüne Augen mich fanden.
»Oh, ja! Juliane hat definitiv recht! Ich frag mich, warum die geilen Jungs erst jetzt auftauchen?« Auch Marisa war Raffaels Blick gefolgt.
Ich vergaß zu antworten. Meine ganze Aufmerksamkeit galt Christopher, was selbst Marisa auffiel, die ihn für meinen Geschmack ein wenig zu intensiv begutachtete.
»Sieh einer an. Wir sind uns einig. Du stehst also auf groß, blondgelockt und unglaublich attraktiv.«
»Ja«, gab ich zu. »Das kannst du mir wohl kaum verübeln.«
»Nein, aber dieses Mal ist die Konkurrenz riesig.«
Das dieses Mal , das sich auf Raffael bezog, überhörte ich. Die Reaktionen meiner Mitschüler auf Christopher überforderten mich. Alle Mädchen – und nicht nur die – hingen mit ihren Blicken an ihm. Einige grinsten dämlich – als wären sie hypnotisiert –, andere hielten sich die Hand vor den Mund – wahrscheinlich um nicht in euphorisches Boygroup-Gekreische auszubrechen –, der Rest starrte nur. Das Ganze dauerte kaum eine Sekunde. Danach zerfiel der Zauber der ersten Begegnung und dämpfte die Begeisterung auf ein für mich noch immer unerträgliches Maß. Eifersucht war kein unbekanntes Gefühl für mich, Christophers Wirkung auf die anderen dagegen schon: Sie verursachte mir körperlichen Schmerz.
Ich widerstand dem Drang, die Augen zu schließen, um die Anwesenheit meiner Mitschüler auszublenden, und konzentrierte mich stattdessen auf meinen Engel. Auch er fokussierte mich – und erkannte mein Gefühlschaos. In seine Augen trat kaltes Jadegrün. Sein stummer Vorwurf drückte mich tiefer indiese unbekannte Emotion. Fluchthormone überschwemmten meinen Körper, doch dieses Mal gewann mein Verstand.
Als Frau Germann die Schulversammlung beendete, stand ich noch immer an derselben Stelle wie zu Beginn. Normalerweise löste sich die Schülerschar schnell auf – heute allerdings nicht. Gebannt beobachteten alle, wie Christopher auf mich zuging und vor mir stehen blieb.
»Hi … Christopher«, brachte ich mit einem Lächeln, das über meine Gefühlskrise hinwegtäuschen sollte, gerade so
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