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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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und las: Hab nicht bei ihr geschlafen, war zu teuer. Wetter könnte nicht besser sein. Um die 25 Grad. Wie geht der Winter mit euch in Jubilee um? Hoffentlich nicht schlecht. Bleib brav. Clare. Das Datum lag zehn Tage zurück. Postkarten sind ja manchmal langsam, aber ich wette, er trug die Karte ein paar Tage lang in der Tasche herum, bevor ihm einfiel, sie aufzugeben. Es war meine einzige Karte, seit er vor drei Wochen nach Florida aufgebrochen war, dabei erwartete ich ihn schon am Freitag oder Samstag zurück. Er unternahm diese Reise jeden Winter, mit seiner Schwester Porky und deren Mann Harold, die in Windsor lebten. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich nicht mochten, aber Clare sagte, das bildete ich mir nur ein. Immer wenn ich mit Porky reden musste, machte ich Fehler, sagte zum Beispiel, dass etwas für mich illerevant sei, wo ich doch weiß, das Wort lautetirrelevant, und sie ließ sich nichts anmerken, aber ich musste hinterher daran denken und brannte vor Scham. Dabei weiß ich, es geschieht mir nur recht, wenn ich versuche, so zu reden, wie ich es normalerweise in Jubilee nie tun würde. Versuche, sie zu beeindrucken, weil sie eine MacQuarrie ist, nach all meinen Predigten an Mama, dass wir genauso gut sind wie die .
    Ich sagte immer zu Clare, schreib mir doch einen Brief, solange du weg bist, und er sagte dann, worüber soll ich denn schreiben? Also bat ich ihn, die Landschaft zu beschreiben und die Leute, die ihm begegneten, alles, wovon ich gerne hören würde, da ich noch nie weiter als bis Buffalo zum Vergnügen von Zuhause fort war (die Zugfahrt nach Winnipeg, als ich Mama zu einem Verwandtenbesuch begleitete, zähle ich nicht mit). Aber Clare sagte, das kann ich dir auch erzählen, wenn ich wieder da bin. Er tat es jedoch nie. Wenn ich ihn wiedersah, sagte ich, nun erzähl mir mal von deiner Reise, und er antwortete, was soll ich dir denn erzählen? Worauf ich verstummte, denn woher sollte ich das wissen?
    Ich sah Mama auf mich warten, sie spähte durch das kleine Fenster in der Haustür. Sie machte die Tür auf, als ich den Garten betrat, und rief: »Pass auf, es ist glatt. Der Milchmann hat sich heute Morgen fast lang hingelegt.«
    »Es gibt Tage, da hätte ich nichts dagegen, mir das Bein zu brechen«, sagte ich, und sie erwiderte: »Sag so was nicht, damit beschreist du’s nur.«
    »Clare hat dir eine Postkarte geschickt«, sagte ich.
    »Ist nicht wahr!« Sie drehte sie um und sagte: »An dich gerichtet, hab ich mir doch gedacht.« Aber sie lächelte trotzdem. »Das Foto, das er ausgesucht hat, gefällt mir nicht, aber vielleicht gibt’s da unten nicht viel Auswahl.«
    Wahrscheinlich war Clare der Liebling aller alten Damen, seitdem er laufen konnte. Für die war er immer noch ein netter, dicker Junge, so manierlich, gar nicht hochnäsig, obwohl er ein MacQuarrie war, und mit einer Art, sie zu necken, von der sie auflebten und Farbe bekamen. Mama und Clare hatten ein Dutzend Spiele, mit denen ich nie mithalten konnte. Eines war, dass er an die Tür klopfte und so etwas sagte wie: »Guten Abend, Madam, ich wüsste gern, ob ich Sie wohl für einen Kurs zur Körperbildung interessieren kann, den ich verkaufe, um mein College-Studium zu finanzieren.« Und Mama schluckte, setzte eine strenge Miene auf und sagte: »Schauen Sie mich an, junger Mann, sehe ich aus, als bräuchte ich einen Kurs zur Körperbildung?« Oder er schaute bekümmert drein und sagte: »Madam, ich bin hier, weil ich mir Sorgen um Ihre Seele mache.« Mama lachte schallend. »Du mach dir Sorgen um deine eigene«, sagte sie und setzteihm Hühnerklößchen und Zitronenbaiserkuchen vor, all seine Lieblingsspeisen. Er erzählte ihr bei Tisch Witze, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie sich die anhören würde. »Hast du von dem alten Herrn gehört, der eine junge Frau geheiratet hat und zum Arzt geht? Doktor, sagt er, ich habe ein bisschen Mühe …« »Hör auf«, sagte Mama – womit sie allerdings wartete, bis er fertig war –, »du bringst Helen Louise nur in Verlegenheit.« Überall außer zu Hause habe ich die Louise am Ende meines Namens abgelegt. Clare übernahm sie von Mama, und ich sagte ihm, dass ich keinen Wert darauf legte, aber er hielt daran fest. Manchmal fühlte ich mich wie ihr Kind, wenn ich zwischen ihm und Mama saß und beide scherzten, ihr Essen genossen und mir sagten, dass ich zu viel rauchte und einen Rundrücken bekommen würde, wenn ich mich nicht aufrichtete. Clare war – ist – zwölf

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