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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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klein und gehorsam zu sein. Plötzlich erinnerte ich mich daran, wie ich ihn, als er noch ganz klein war, in die Scheune gebracht und ihm befohlen hatte, die Leiter bis zum obersten Dachbalken hochzusteigen. Das war damals auch im Frühling, als nicht mehr viel Heu übrig war. Ich hatte es aus reiner Lust nach etwas Aufregendem getan, aus Verlangen nach einem Ereignis, damit ich davon erzählen konnte. Er trug ein unförmiges, braunweiß kariertes Mäntelchen, das aus einem abgelegten Mantel von mir geschneidert war. Er kletterte bis ganz nach oben, genau wie ich ihm befohlen hatte, und setzte sich auf den obersten Balken, tief unter ihm auf der einen Seite das Heu und auf der anderen der Scheunenfußboden und ein paar alte Gerätschaften. Dann rannte ich schreiend zu meinem Vater: »Laird istauf dem Dachbalken!« Mein Vater kam, meine Mutter kam, mein Vater stieg leise redend die Leiter hoch und trug Laird unter einen Arm geklemmt herunter, worauf meine Mutter sich an die Leiter lehnte und weinte. Sie fragten mich: »Warum hast du nicht auf ihn aufgepasst?«, aber sie erfuhren nie die Wahrheit. Laird war noch zu klein, um alles zu erzählen. Aber jedes Mal, wenn ich das braunweiß karierte Mäntelchen im Schrank hängen sah oder im Lumpensack, wo es schließlich endete, spürte ich eine Last im Bauch, die Trauer unerlöster Schuld.
    Ich sah Laird an, der sich überhaupt nicht daran erinnern konnte, und der Ausdruck auf seinem dünnen, winterblassen Gesicht gefiel mir gar nicht. Er sah nicht verängstigt oder verstört aus, sondern konzentriert, in Gedanken weit fort. »Hör mal«, sagte ich mit ungewöhnlich heller und freundlicher Stimme, »du wirst doch nichts sagen?«
    »Nein«, sagte er geistesabwesend.
    »Versprochen?«
    »Versprochen«, sagte er. Ich packte die Hand hinter seinem Rücken, um mich zu vergewissern, dass er nicht die Finger kreuzte. Trotzdem war möglich, dass er Albträume bekam; es konnte auf diese Weise herauskommen. Ich beschloss, mehr Mühe darauf zu verwenden, alle Gedanken an das, was er gesehen hatte, aus seinem Kopf zu vertreiben – der, so fand ich, ohnehinnicht vieles gleichzeitig fassen konnte. Ich holte ein bisschen Geld, das ich gespart hatte, und an dem Nachmittag gingen wir nach Jubilee und sahen einen Film mit Judy Canova, über den wir beide viel lachten. Danach dachte ich, dass alles in Ordnung sein würde.
    Zwei Wochen später wusste ich, dass sie Flora erschießen würden. Ich erfuhr es am Abend vorher, als ich meine Mutter fragen hörte, ob denn das Heu reichte, und mein Vater antwortete: »Na ja, übermorgen wird nur noch die Kuh da sein, und die sollte in einer guten Woche auf die Weide können.« Daher wusste ich, dass Flora am nächsten Morgen dran war.
    Diesmal dachte ich nicht daran, zuzuschauen. Das war etwas, was man sich nur einmal ansah. Ich hatte seitdem nicht sehr oft daran gedacht, aber manchmal, wenn ich beschäftigt war, meine Hausaufgaben machte oder mir vor dem Spiegel die Haare kämmte und mich fragte, ob ich eines Tages hübsch sein würde, stand mir die ganze Szene blitzartig vor Augen: Ich sah die lässige, geübte Art, in der mein Vater das Gewehr hob, und hörte Henry lachen, als Mack mit den Beinen strampelte. Ich empfand weder starken Abscheu noch große Empörung, wie ein Stadtkind es vielleicht getan hätte; ich war es gewohnt, den Tod von Tieren als eine Notwendigkeit zu sehen, von der wir lebten. Trotzdem schämte ich mich ein wenig, und es gab ein neues Misstrauen, eine Abwehr in meiner Haltung meinem Vater und seiner Arbeit gegenüber.
    Es war ein schöner Tag, wir gingen im Garten herum und hoben die Äste auf, die von den Winterstürmen abgerissen worden waren. Das war uns befohlen worden, außerdem wollten wir sie benutzen, um ein Tipi zu bauen. Wir hörten Flora wiehern, dann die Stimme meines Vaters und Henrys Schreie, und wir rannten zur Scheune, um nachzusehen, was los war.
    Die Stalltür stand offen. Henry hatte Flora gerade herausgebracht, und sie hatte sich losgerissen. Sie rannte frei im Hof herum, von einem Ende zum anderen. Wir kletterten auf den Zaun. Es war aufregend, wie sie herumtrabte, wieherte, ausschlug, sich aufbäumte und drohte wie ein Pferd in einem Western, wie ein ungebrochenes Wildpferd, obwohl sie nur ein altes Zugpferd war, eine alte fuchsrote Stute. Mein Vater und Henry rannten hinter ihr her, um sie beim Halfter zu packen. Beide versuchten, sie in eine Ecke zu treiben, und es wäre ihnen fast gelungen, doch

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