Tanz der seligen Geister (German Edition)
nachdem Laird eingeschlafen war, und erzählte mirGeschichten, doch sogar in diesen Geschichten geschah etwas anderes, geheimnisvolle Veränderungen fanden statt. Eine Geschichte mochte in der alten Art anfangen, mit einer aufsehenerregenden Gefahr, einem Feuer oder wilden Tieren, und eine Weile lang mochte ich andere retten; dann aber kam alles anders, jemand rettete mich. Es konnte ein Junge aus meiner Schulklasse sein oder sogar Mr. Campbell, unser Lehrer, der Mädchen unter den Armen kitzelte. Und an diesem Punkt beschäftigte sich die Geschichte ausführlich damit, wie ich aussah – wie lang meine Haare waren und was für ein Kleid ich trug; bis ich diese Einzelheiten ausgearbeitet hatte, hatte sich das Erregende der Geschichte verloren.
Es war nach ein Uhr, als der Lieferwagen zurückkam. Die Plane war zugedeckt, was hieß, dass Fleisch darunterlag. Meine Mutter musste das Mittagessen aufwärmen. Henry und mein Vater hatten in der Scheune ihre blutige Arbeitskleidung gegen normale vertauscht, wuschen sich an der Spüle Arme, Hals und Gesicht, spritzten sich Wasser ins Haar und kämmten es. Laird hob den Arm hoch, um Blutspritzer zu zeigen.
»Wir haben die alte Flora erschossen«, sagte er, »und in fünfzig Stücke zerschnitten.«
»Ich will nichts davon hören«, sagte meine Mutter. »Und komm nicht so an meinen Tisch.«
Mein Vater befahl ihm, sich das Blut abzuwaschen.
Wir setzten uns, mein Vater sprach das Tischgebet, und Henry klebte seinen Kaugummi auf das Ende seiner Gabel, wie er es immer tat; wenn er ihn abnahm, zeigte er ihn uns, damit wir das Muster bewunderten. Wir begannen, die Schüsseln mit dampfendem, verkochtem Gemüse herumzureichen. Laird sah mich über den Tisch hinweg an und sagte stolz und deutlich: »Jedenfalls war es ihre Schuld, dass Flora abgehauen ist.«
»Was?«, sagte mein Vater.
»Sie sollte das Tor zumachen, hat sie aber nicht. Sie hat’s aufgemacht, und Flora ist rausgerannt.«
»Stimmt das?«, fragte mein Vater.
Alle am Tisch sahen mich an. Ich nickte und hatte große Schwierigkeiten, mein Essen hinunterzuschlucken. Zu meiner Schande traten mir Tränen in die Augen.
Mein Vater gab einen kurzen Laut des Abscheus von sich. »Warum hast du das getan?«
Ich antwortete nicht. Mit gesenktem Blick legte ich die Gabel hin und wartete darauf, vom Tisch weggeschickt zu werden.
Aber das geschah nicht. Eine Zeitlang sagte niemand ein Wort, dann stellte Laird lauthals fest: »Sie heult.«
»Lass mal«, sagte mein Vater. Resigniert, sogar gut gelaunt sprach er die Worte aus, die mich erlösten undzugleich endgültig verdammten. »Sie ist bloß ein Mädchen«, sagte er.
Ich protestierte nicht dagegen, nicht mal im Herzen. Vielleicht stimmte es ja.
Postkarte
Gestern Nachmittag, erst gestern, ging ich die Straße zum Postamt hinunter und dachte, wie sehr ich den Schnee satt hatte, die Halsschmerzen, das ganze, sich lang hinziehende Schwanzende des Winters, und ich wünschte mir, ich könnte mich nach Florida davonmachen wie Clare. Es war am Mittwoch, meinem freien Nachmittag. Ich arbeite in King’s Warenhaus, in dem es trotz des Namens nur noch Kleidung von der Stange und Textilien gibt. Früher gab es auch Lebensmittel, aber daran kann ich mich kaum noch erinnern. Mama nahm mich oft mit, setzte mich auf den hohen Hocker, und der alte Mr. King gab mir eine Handvoll Rosinen mit den Worten, die gebe ich nur hübschen Mädchen. Die Lebensmittel wurden aus dem Sortiment genommen, als er starb, der alte Mr. King, und es ist nicht einmal mehr King’s Warenhaus, es gehört inzwischen jemandem namens Kruberg. Der betritt das Geschäft überhaupt nicht, schickt nur Mr. Hawes als Geschäftsführer vor. Ich leite die erste Etage, Kinderbekleidung, und schmücke zu Weihnachten die Schaufenster mit Spielzeug. Ich bin seit vierzehn Jahren da, und Hawes hackt nicht auf mir herum, denn er weiß, dass ich es mir nicht gefallen lassen würde.
Am Mittwoch sind die Postschalter geschlossen, aber ich hatte meinen Schlüssel. Ich schloss das Postfach auf, nahm Mamas Jubilee-Zeitung heraus, die Telefonrechnung und eine Postkarte, die ich fast übersehen hätte. Ich schaute mir zuerst das Foto an, es zeigte Palmen, einen heißen blauen Himmel und die Fassade eines Hotels mit einer Reklame in Form einer großen, gut bestückten Blondine, die wahrscheinlich nachts aus Neonröhren leuchtete. Sie sagte Schlaf bei mir , das heißt, eine Blase mit diesen Worten quoll aus ihrem Mund. Ich drehte sie um
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