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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Haare waren von Natur aus lockig, aber an dem Tag brauchte ich den Schutz aller möglichen weiblichen Rituale. Ich lag auf dem Sofa in der Küche, las Die letzten Tage von Pompeji und wünschte, ich wäre dort. Meine ewig unzufriedene Mutter nähte einen weißen Spitzenkragen an das Kleid; sie war zu dem Schluss gekommen, dass es zu erwachsen aussah. Ich zählte die Stunden. Es war einer der kürzesten Tage des Jahres. Über dem Sofa klebten auf der Tapete alte Käsekästchenspiele, alte Zeichnungen und Kritzeleien, die mein Bruder und ich gemacht hatten, als wir mit Bronchitis im Bett lagen. Ich betrachtete sie und sehnte mich zurück hinter die sicheren Grenzen der Kindheit.
    Als ich die Lockenwickler herausnahm, explodierten meine sowohl natürlich gelockten als auch künstlich angeregten Haare zu einem üppigen, glänzenden Busch. Ich machte sie nass, kämmte sie, traktierte sie mit der Bürste und zog sie entlang der Wangen herunter. Ich legte Puder auf, der sich kalkig von meinem erhitzten Gesicht abhob. Meine Mutter holte ihr Rosenwasser, das sie nie benutzte, und ich spritzte es mir auf die Arme. Dann zog sie den Reißverschluss des Kleides zu und drehte mich um zum Spiegel. Das Kleid war im Prinzessstil, mit sehr engem Oberteil. Ich sah, dass meine Brüste in dem neuen steifen Büstenhalter unter den kindlichen Rüschen des Kragens überraschend und mit reifer Würde aufragten.
    »Also ich wünschte, ich könnte ein Foto von dir machen«, sagte meine Mutter. »Ich bin wirklich ehrlich stolz darauf, wie gut es sitzt. Und du könntest dich dafür bedanken.«
    »Danke«, sagte ich.
    Das Erste, was Lonnie sagte, als ich ihr die Tür aufmachte, war: »Herrschaft, was hast du mit deinen Haaren angestellt?«
    »Ich habe sie aufgedreht.«
    »Du siehst aus wie ein Zulukaffer. Aber keine Sorge. Gib mir einen Kamm, und ich mache dir eine Stirnrolle. Das wird ordentlich aussehen. Es wird dich sogar älter machen.«
    Ich setzte mich vor den Spiegel, Lonnie stand hinter mir und frisierte mich. Meine Mutter schien uns nicht verlassen zu können. Ich wünschte, sie würde gehen. Sie sah zu, wie die Rolle Gestalt annahm und sagte: »Du bist ein Wunder, Lonnie. Du solltest Friseuse werden.«
    »Gute Idee«, sagte Lonnie. Sie trug ein blassblaues Kreppkleid mit Rockschößen und einer Schleife; es war viel erwachsener als meins, sogar ohne den Spitzenkragen. Ihre Haare waren so glatt wie die von dem Mädchen auf der Haarklammerkarte. Insgeheim hatte ich immer gedacht, dass Lonnie nicht hübsch sein konnte, weil sie schiefe Zähne hatte, aber jetzt sah ich, schiefe Zähne hin oder her, neben ihrem eleganten Kleid und ihren glatten Haaren wirkte ich ein wenig wie eine in roten Samt gestopfte Negerpuppe, mit weit aufgerissenen Augen, wilden Haaren und einem Anflug von Delirium.
    Meine Mutter folgte uns zur Tür und rief ins Dunkel hinaus: »Au reservoir!« Das war ein traditioneller Abschiedsgruß von Lonnie und mir; aus ihrem Munde klang er töricht und trostlos, und ich war deswegen so wütend auf sie, dass ich nicht antwortete. Nur Lonnie rief fröhlich und aufmunternd zurück: »Gute Nacht!«
    Die Turnhalle roch nach Tannen und Zedern. Rote und grüne Glocken aus Krepppapier hingen an denBasketballkörben; die hohen, vergitterten Fenster waren von grünen Zweigen verdeckt. Alle aus den höheren Klassen schienen paarweise gekommen zu sein. Einige der Mädchen aus der zwölften und dreizehnten Klasse hatten Freunde mitgebracht, die ihren Schulabschluss schon gemacht hatten und junge Geschäftsleute in der Stadt waren. Diese jungen Männer rauchten in der Turnhalle, niemand konnte es ihnen verbieten, sie waren frei. Die Mädchen standen neben ihnen, ihre Hände ruhten lässig auf männlichen Ärmeln, ihre Gesichter waren gelangweilt, unzugänglich und schön. Ich sehnte mich danach, so zu sein. Sie benahmen sich, als seien nur sie – die Älteren – wirklich auf dem Ball, als seien wir Übrigen, zwischen denen sie sich bewegten und an denen sie vorbeisahen, wenn nicht unsichtbar, so doch leblos; als der erste Tanz angekündigt wurde – ein Paul Jones mit Partnerwechsel –, schlenderten sie auf die Tanzfläche und lächelten einander zu, als seien sie aufgefordert worden, an einem halb vergessenen Kinderspiel teilzunehmen. Uns bei den Händen haltend, fröstelnd zusammengeschart, folgten Lonnie und ich und die übrigen Mädchen aus der neunten Klasse.
    Ich wagte nicht, zum äußeren Kreis zu schauen, während er an mir

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