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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Und was war mit mir? Vielleicht wird er, wenn er mir eines Tages auf der Straße begegnet, nur sagen: »Tag, Helen, wie geht’s?«, und mir einen Witz erzählen. Und wenn ich mir wirklich Gedanken darüber gemacht hätte, was für ein Mensch er ist, dieser Clare MacQuarrie, wenn ich achtgegeben hätte, dann hätte ich mich ganz anders verhalten und vielleicht auch anders empfunden, obwohl, wer weiß, ob das am Ende etwas geändert hätte.
    »Tut es Ihnen jetzt nicht leid, dass Sie so ein Tamtam gemacht haben?«, fragte Buddy, und ich machte ihm Platz, sah zu, wie Clare wieder in sein Haus ging, und dachte, ja, ich hätte achtgeben sollen. Buddy sagte: »Sie werden ihn und seine Frau jetzt nicht weiter behelligen, ja, Helen?«
    »Was?«, fragte ich.
    »Sie werden Clare und seine Frau nicht weiter behelligen? Denn damit ist es aus und vorbei, jetzt, wo er verheiratet ist. Und wenn Sie morgen früh aufwachen,werden Sie sich ganz schön schämen für das, was Sie heute Abend gemacht haben, Sie werden nicht wissen, wie Sie aus dem Haus gehen und den Leuten gegenübertreten sollen. Aber lassen Sie sich von mir sagen, solche Sachen passieren dauernd, da gibt’s nur eins, seinen Weg weitergehen und dran denken, dass man nicht der Einzige ist.« Es schien ihm gar nicht in den Sinn zu kommen, wie komisch es war, dass er jetzt mir eine Predigt hielt, mir, die ihm seine Bibelverse abgehört und ihn dabei erwischt hatte, wie er heimlich das Dritte Buch Mose las.
    »Erst letzte Woche zum Beispiel«, sagte er und fuhr langsam die Grove Street hinunter, überhaupt nicht in Eile, mich nach Hause zu bringen und die Predigt zu beenden, »letzte Woche kriegten wir einen Anruf und mussten raus zum Dummock-Sumpf, weil da ein Auto festsaß. Der alte Farmer fuchtelte mit einem geladenen Gewehr und drohte damit, das Pärchen wegen unerlaubten Eindringens zu erschießen, wenn die beiden nicht sofort von seinem Grund und Boden verschwänden. Die beiden waren bloß nach Einbruch der Dunkelheit einem Feldweg gefolgt, wo doch jeder Idiot weiß, dass man da zu dieser Jahreszeit stecken bleibt. Sie würden beide kennen, wenn ich Ihnen die Namen nennen würde, und Sie würden wissen, dass die nichts in dem Auto zusammen zu suchen hatten. Sie ist eine verheiratete Dame. Und das Schlimmste ist, inzwischen wundert sich ihr Mann, warum sie nicht von der Chorprobe nach Hause kommt – beide Beteiligten singen in einem Chor, aber ich sage Ihnen nicht, in welchem –, und er hat sie als vermisst gemeldet. Also mussten wir einen Traktor besorgen, um das Auto rauszuholen und den alten Farmer zu beruhigen, ihn ließen wir da schmoren, und sie haben wir am helllichten Tag nach Hause gebracht, sie hat den ganzen Weg über geweint. Das meine ich mit solchen Sachen. Gestern habe ich den Ehemann und die Frau beim Einkaufen gesehen, sie sahen nicht allzu glücklich aus, aber sie machten eben ihre Einkäufe. Also seien Sie vernünftig, Helen, gehen Sie weiter Ihren Weg wie wir alle, und bald kommt der Frühling.«
    Ach, Buddy Shields, du kannst noch lange so weiterreden, und Clare wird Witze erzählen, und Mama wird weinen, bis sie es verkraftet hat, aber ich werde nie verstehen, warum ich genau in dem Augenblick, als ich erkannte, dass man von Clare MacQuarrie keine Erklärung verlangen kann, zum ersten Mal das Verlangen verspürte, die Hände auszustrecken und ihn zu berühren .

Rotes Kleid – 1946
    Meine Mutter nähte mir ein Kleid. Den ganzen November über fand ich sie, wenn ich von der Schule nach Hause kam, in der Küche vor, umgeben von zerschnittenem rotem Samt und Schnittmusterteilen aus Seidenpapier. Sie arbeitete an einer alten Tretnähmaschine, die sie ans Fenster gerückt hatte, um genug Licht zu haben, aber auch, damit sie hinausschauen konnte, über die Stoppelfelder und den kahlen Gemüsegarten hinweg, um zu sehen, wer auf der Straße vorbeikam. Selten kam jemand vorbei.
    Der rote Samt ließ sich nur schwer verarbeiten, er verzog sich, und die Machart, die meine Mutter sich ausgesucht hatte, war auch nicht einfach. Sie konnte eigentlich nicht gut schneidern. Sie nähte gerne Sachen; das ist etwas anderes. Sie hielt sich ungern mit dem Heften und Bügeln auf und legte auch keinen großen Wert auf die Feinheiten der umstickten Knopflöcher und überwendlich genähten Säume, wie es zum Beispiel meine Tante und meine Großmutter taten. Anders als sie begann sie mit einem Einfall, einer wagemutigen und glänzenden Idee; von da an ließ ihre

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