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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Begeisterung nach. Es fing damit an, dass sie kein passendes Schnittmuster fand. Was kein Wunder war; esgab keine passenden Schnittmuster für die Ideen, die in ihrem Kopf erblühten. So hatte sie mir, als ich klein war, ein geblümtes Organdykleid gemacht, dessen hoher viktorianischer Ausschnitt mit kratzender Spitze eingefasst war, dazu einen passenden Kiepenhut; einen Schottenrock mit einer Samtjacke und einer Schottenmütze; eine bestickte Bauernbluse, zu der ein weiter roter Rock und ein schwarzes Spitzenmieder gehörten. Ich hatte diese Sachen gehorsam und sogar gerne getragen, zu der Zeit, als ich noch nichts von der Meinung der Welt wusste. Inzwischen war ich klüger und wünschte mir Kleider, wie meine Freundin Lonnie sie hatte, bei Beale’s gekauft.
    Ich musste das Kleid anprobieren. Manchmal kam Lonnie nach der Schule mit zu mir nach Hause, saß auf dem Sofa und sah zu. Mir war peinlich, wie meine Mutter um mich herumkroch, mit knackenden Knien und schwerem Atem. Sie sprach halblaut mit sich selbst. Zuhause trug sie kein Korsett und auch keine langen Strümpfe, sondern Schuhe mit Keilabsätzen und Söckchen; auf ihren Beinen zeichneten sich Klumpen blaugrüner Venen ab. Ich fand es schamlos, wie sie dahockte, sogar unanständig; ich versuchte, mich mit Lonnie zu unterhalten, um deren Aufmerksamkeit so weit wie möglich von meiner Mutter abzulenken. Lonnie trug die beherrschte, höfliche und respektvolle Miene zur Schau, die ihre Tarnung in Gegenwart Erwachsener war. Sie lachte über sie und ahmte sie böse nach, ohne dass sie es ahnten.
    Meine Mutter zog an mir herum und piekte mich mit Stecknadeln. Sie befahl mir, mich umzudrehen, ein Stück zu gehen, still zu stehen. »Wie findest du es, Lonnie?«, fragte sie um die Stecknadeln in ihrem Mund herum.
    »Es ist schön«, sagte Lonnie in ihrer sanften, aufrichtigen Art. Lonnies eigene Mutter war tot. Sie lebte bei ihrem Vater, der nie von ihr Notiz nahm, und das machte sie in meinen Augen sowohl verletzlich als auch privilegiert.
    »Es wird schön sein, wenn ich je hinkriege, dass es passt«, sagte meine Mutter. »Aber ach«, sagte sie theatralisch, »ich bezweifle, ob sie es zu schätzen weiß.« Es machte mich wütend, wenn sie so mit Lonnie redete, als sei Lonnie erwachsen und ich immer noch ein Kind. »Steh still«, sagte sie und zog mir das zusammengesteckte und -geheftete Kleid über den Kopf. Mein Kopf war in Samt gemummelt, mein Körper bloßgestellt in einem alten baumwollenen Schulunterrock. Ich fühlte mich wie ein großer, roher Klumpen, plump und voller Gänsehaut. Ich wünschte, ich wäre wie Lonnie, zierlich, blass und dünn; sie war mit einem Herzfehler geboren worden.
    »Mir hat jedenfalls niemand ein Kleid gemacht, als ich auf die Highschool kam«, sagte meine Mutter. »Ichhabe mir selbst eins gemacht, oder es gab keins.« Ich hatte Angst, sie würde wieder mit der Geschichte anfangen, wie sie sieben Meilen weit in die Stadt gelaufen war und sich Arbeit als Bedienung in einer Pension gesucht hatte, damit sie auf die Highschool gehen konnte. All die Geschichten aus dem Leben meiner Mutter, die mich früher interessiert hatten, kamen mir inzwischen melodramatisch, belanglos und nervtötend vor.
    »Einmal habe ich ein Kleid geschenkt bekommen«, sagte sie. »Es war aus cremefarbener Kaschmirwolle mit königsblauen Biesen vorn und hübschen Perlmuttknöpfen, ich weiß gar nicht, wo das abgeblieben ist.«
    Als ich freikam, ging ich mit Lonnie nach oben in mein Zimmer. Es war kalt, aber wir blieben oben. Wir redeten über die Jungs in unserer Klasse, gingen sie der Reihe nach durch und fragten: »Magst du ihn? Magst du ihn ein bisschen? Hasst du ihn? Würdest du mit ihm ausgehen, wenn er dich fragte?« Niemand hatte uns gefragt. Wir waren dreizehn und gingen seit zwei Monaten auf die Highschool. Wir beantworteten Fragebögen in Illustrierten, um herauszufinden, ob wir Persönlichkeit besaßen und ob wir beliebt sein würden. Wir lasen Artikel darüber, wie wir uns das Gesicht schminken sollten, um unsere Vorteile zu betonen, wie wir beim ersten Rendezvous eine Unterhaltung führen sollten und was zu tun war, wenn ein Junge versuchte,zu weit zu gehen. Außerdem lasen wir Artikel über die Frigidität im Klimakterium, über Abtreibung und warum verheiratete Männer Befriedigung außerhalb der Ehe suchten. Wenn wir keine Schularbeiten machten, waren wir meistens damit beschäftigt, an sexuelle Informationen zu gelangen, sie weiterzugeben und zu

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