Tanz der seligen Geister (German Edition)
diskutieren. Wir hatten einen Pakt geschlossen, einander alles zu erzählen. Aber eines erzählte ich nicht, nämlich das von dem Ball, dem Weihnachtsball der Highschool, für den meine Mutter mir das Kleid nähte. Weil ich nämlich nicht hingehen wollte.
In der Highschool fühlte ich mich nie auch nur eine Minute lang wohl. Ich wusste nicht, wie es Lonnie ging. Vor einer Prüfung bekam sie zwar eiskalte Hände und Herzklopfen, aber ich war ständig der Verzweiflung nahe. Wenn mir im Unterricht eine Frage gestellt wurde, auch nur die einfachste kleine Frage, neigte meine Stimme dazu, piepsig herauszukommen oder aber heiser und zittrig. Wenn ich an die Tafel musste, war ich überzeugt – sogar zu einer Zeit im Monat, wo das gar nicht sein konnte –, dass ich Blutflecke im Rock hatte. Meine Hände wurden glitschig von Schweiß, wenn sie den großen Zirkel bedienen sollten. Beim Volleyball gelang es mir nicht, den Ball zu treffen; sobald ich vor anderen etwas vollbringen musste, setzten meine sämtlichen Reflexe aus. Ichhasste Handelskunde, weil man Seiten für ein Geschäftsbuch mit geraden Strichen linieren musste, und wenn mir die Lehrerin über die Schulter schaute, wellten sich die dünnen Linien und gerieten ineinander. Ich hasste Chemie und Physik; wir thronten auf hohen Hockern unter grellen Lampen an Tischen mit fremdartigen, zerbrechlichen Apparaturen und wurden vom Rektor der Schule unterrichtet, einem Mann mit kalter, selbstgefälliger Stimme – er las jeden Morgen aus der Bibel vor – und großem Talent, Demütigungen zuzufügen. Ich hasste Englisch, weil die Jungs im hinteren Teil des Klassenzimmers Bingo spielten, während die Lehrerin, eine dickliche, sanfte, leicht schielende junge Frau, vorne Wordsworth vorlas. Sie drohte ihnen, sie flehte sie an, mit rotem Gesicht und einer Stimme, so unzuverlässig wie meine. Die Jungs entschuldigten sich mit grotesker Übertreibung, und sobald sie weiter vorlas, nahmen sie verzückte Posen ein, zogen ekstatische Grimassen, schielten und pressten die Hände ans Herz. Manchmal brach sie in Tränen aus, es ging nicht anders, sie musste hinauslaufen in den Korridor. Dann stießen die Jungs ein lautes Muhen aus; unser gefräßiges Gelächter – oh, auch das meine – verfolgte sie. Bei solchen Gelegenheiten herrschte im Klassenzimmer eine brutale Karnevalsstimmung, die Schwachen und Gefährdeten wie mir Angst machte.
Aber was eigentlich in der Schule stattfand, das war nicht Handelskunde, nicht Physik oder Chemie oder Englisch, sondern etwas anderes, das dem Leben das Stürmische und Leuchtende gab. Dieses alte Gemäuer mit seinen feuchtkalten Kellern und dunklen Umkleideräumen, mit seinen Bildern von toten Königen und verschollenen Entdeckern, war erfüllt von der Spannung und Erregung sexueller Wettkämpfe, und trotz meiner Tagträume von umwerfenden Erfolgen plagten mich Vorahnungen einer katastrophalen Niederlage. Es musste etwas passieren, damit mir dieser Ball erspart blieb.
Mit dem Dezember kam der Schnee, und ich hatte eine Idee. Bislang war mir nur der Gedanke gekommen, vom Fahrrad zu fallen und mir den Fuß zu verstauchen, und ich hatte versucht, das fertigzubringen, wenn ich auf den hart gefrorenen, tief zerfurchten, ungepflasterten Wegen nach Hause fuhr. Aber es war zu schwierig. Mein Hals und meine Bronchien jedoch waren angeblich schwach; warum sie nicht preissetzen? Ich fing damit an, nachts aufzustehen und das Fenster einen Spalt weit zu öffnen. Ich kniete mich hin und ließ mir den Wind, der manchmal stechenden Schnee mit sich trug, um den bloßen Hals wehen. Ich zog die Jacke vom Schlafanzug aus. Ich sprach zu mir selbst die Worte »blau gefroren«, während ich mit geschlossenen Augen kniete, ich malte mir aus, wie meine Brust undmein Hals blau wurden, die Adern unter der Haut kalt und graublau. Ich verharrte so, bis ich es nicht mehr aushielt, dann holte ich mir eine Handvoll Schnee vom Fensterbrett und verteilte ihn auf der Brust, bevor ich die Jacke wieder anzog und zuknöpfte. Der Schnee würde im Flanell schmelzen, und ich würde in nassen Sachen schlafen, was als das Allerschlimmste galt. Sowie ich morgens aufwachte, räusperte ich mich auf der Suche nach Heiserkeit, hustete versuchsweise und tastete meine Stirn nach Fieber ab. Nichts da. An jedem Morgen, auch an dem Tag des Balls, stand ich geschlagen auf, vollkommen gesund.
Am Tag des Balls wickelte ich meine Haare auf Lockenwickler. Das hatte ich noch nie getan, denn meine
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