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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Ausgabe der Time . Es gab natürlich auf der Terrasse keine Klingel; Mrs. Gannett rief »Ach, Alva?« oder einfach »Alva!« in einem Tonfall, so durchdringend und anonym wie eine Klingel. Es war seltsam, sie so rufen zu hören, mitten aus einer Unterhaltung heraus, und dann gleich wieder ihr Gelächter; es war, als hätte sie eine mechanische Stimme oder sogar einen Knopf eigens für Alva.
    Am Ende der Mahlzeit brachten alle ihre Dessertteller und Kaffeetassen in die Küche zurück. Mrs. Vance sagte, der Kartoffelsalat sei hinreißend gewesen; Mr. Vance, völlig betrunken, sagte: Hinreißend, hinreißend. Er stand direkt hinter Alva an der Spüle, so nah, dass sie seinen Atem spürte und seine Hände ahnte, auch wenn er sie nicht richtig berührte. Mr. Vance war sehr groß, mit krausen grauen Haaren und rosigem Teint, und Alva fand ihn angsteinflößend, denn er gehörte zu den Männern, denen sie bisher mit Respektbegegnet war. Mrs. Vance redete unaufhörlich und schien, wenn sie mit Alva sprach, unsicherer, dabei aber wärmer zu sein als irgendeine der anderen Frauen. Es gab eine gewisse Instabilität in der Position der Vances; Alva wusste nicht genau, woran das lag; vielleicht war es einfach nur, dass sie nicht so viel Geld wie die anderen hatten. Jedenfalls waren sie immer sehr unterhaltsam, sehr enthusiastisch, und Mr. Vance trank immer zu viel.
    »Geht’s hoch in den Norden, Alva, hoch zur Georgian Bay?«, sagte Mr. Vance, und Mrs. Vance sagte: »Ach, Sie werden es lieben, die Gannetts haben ein hinreißendes Anwesen«, und Mr. Vance sagte: »Sich da oben ein bisschen von der Sonne bescheinen lassen, wie?«, dann gingen beide hinaus. Alva, die sich jetzt bewegen konnte, ging, um schmutzige Teller zu holen, und merkte, dass Mr. Gannetts Vetter oder so jemand noch da war. Er war mager und sah ledrig aus, wie Mrs. Gannett, allerdings dunkelhaarig. Er sagte: »Sie haben nicht zufällig noch Kaffee, oder?« Alva goss ihm ein, was noch da war, eine halbe Tasse. Er trank sie aus und sah zu, wie sie das Geschirr wegräumte. Dann sagte er: »Macht Spaß, was?«, und als sie aufblickte, lachte er und ging hinaus.
    Alva hatte frei, nachdem sie mit dem Geschirr fertig war; Dinner gab es erst spät. Sie durfte aber das Haus nicht verlassen; Mrs. Gannett könnte etwas von ihrwollen. Und hinausgehen konnte sie ohnehin nicht, denn draußen waren die Gäste. Sie ging in den ersten Stock hinauf; dann fiel ihr ein, dass Mrs. Gannett gesagt hatte, sie könne jedes Buch im Herrenzimmer lesen, also ging sie wieder hinunter, um sich eins zu holen. In der Diele begegnete sie Mr. Gannett, der sie sehr ernst und aufmerksam ansah, aber offenbar an ihr vorbeigehen wollte, ohne etwas zu sagen; doch dann sagte er: »Hören Sie, Alva – hören Sie, bekommen Sie genug zu essen?«
    Das war kein Scherz, denn Mr. Gannett machte keine Scherze. Er hatte sie das sogar schon zwei oder drei Mal gefragt. Er schien sich für sie verantwortlich zu fühlen, wenn er sie in seinem Haus sah; das Wichtigste schien zu sein, dass sie gut ernährt wurde. Alva beruhigte ihn, rot vor Ärger; war sie eine Kuh? Sie sagte: »Ich wollte mir gerade ein Buch aus dem Herrenzimmer holen. Mrs. Gannett hat gesagt, das darf ich …«
    »Ja, ja, jedes Buch, das Sie wollen«, sagte Mr. Gannett, machte unerwartet die Tür des Herrenzimmers für sie auf und führte sie zu den Bücherregalen, wo er stirnrunzelnd stehen blieb. »Welches Buch möchten Sie?«, fragte er. Seine Hand wanderte zu dem Regalbrett mit den grell eingebundenen Krimis und den historischen Romanen, aber Alva sagte: »Ich habe noch nie König Lear gelesen.«
    »König Lear«, sagte Mr. Gannett. »Oho.« Er wusste nicht, wo danach suchen, also holte Alva das Buch selbst herunter. »Auch Rot und Schwarz noch nicht«, sagte sie. Was ihn nicht so beeindruckte, aber es war ein Buch, das sie wirklich lesen wollte; außerdem konnte sie nicht nur mit König Lear auf ihr Zimmer gehen. Als sie das Herrenzimmer verließ, war sie mit sich zufrieden; sie hatte ihm gezeigt, dass sie noch mehr tat als nur essen. Ein Mann war mit König Lear leichter zu beeindrucken als eine Frau. Mrs. Gannett allerdings ließ sich von so etwas überhaupt nicht beeindrucken; Dienstmädchen blieb Dienstmädchen.
    Aber in ihrem Zimmer mochte sie dann doch nicht lesen. Ihr Zimmer lag über der Garage und war sehr heiß. Wenn sie sich aufs Bett setzte, verknitterte sie ihre Uniform, und die andere war nicht gebügelt.

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