Tanz im Mondlicht
ausgewachsenes Tier. Stolz stand der Hirsch da, seine Silhouette zeichnete sich gegen das Mondlicht ab, und er sah Dylan unverwandt an. Zwei männliche Wesen, die sich mit Blicken maßen. Wem gehörte das Territorium eigentlich?
Im Gebüsch raschelte es erneut, und eine Hirschkuh mit zwei Jungtieren tauchte auf. Der Bock wich zurück, bewegte sich im Kreis, drängte sie in die schützende Deckung. Dylans Bein brannte wie Feuer, seine Schulter schmerzte vom Gewicht der Sägen. Er blickte der Hirschfamilie lange nach, bis seine Sicht verschwamm und er sich fragte, ob er sie überhaupt gesehen oder das Mondlicht ihm nur einen Streich gespielt hatte.
Der Mond war jetzt hart und weiß, die Konturen schärfer, als er am klaren dunklen Firmament emporstieg. Seine Mutter hatte den Märzmond immer den »Raben-Vollmond« genannt. Sie liebte ihn, weil das Krächzen der Raben das Ende des Winters signalisierte und weil sie Raben mochte. Sie war nicht nur Biologielehrerin an einer Highschool, sondern auch eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die ihren Respekt vor der Wissenschaft mit der Liebe zur Legende in Einklang zu bringen verstand.
»Die Sprache der Raben oder vielmehr das Krähen ist sehr komplex«, hatte sie ihm erklärt. »Jedes Krächzen hat eine andere Bedeutung, was auf die tiefverwurzelte Intelligenz des Vogels hindeutet. Raben sind loyal und ihrer Familie treu ergeben. Sie ehren ihre Vorfahren, bewegen sich frei und ungebunden in der ganzen Welt, arbeiten am besten im Verbund – oder als Mitglied einer Ratsversammlung. Sie gelten als Boten, die auf ihren Schwingen die Seelen von der Dunkelheit ins Licht tragen.«
Dylan stand reglos da, betrachtete den harten Rabenmond, kniff die Augen zusammen und lauschte. Ringsum hörte er die jungen Laubfrösche quaken; in der Ferne vernahm er den Ruf der Raben. Er wünschte sich, es möge wahr sein, dass die Seelen auf ihren Schwingen getragen wurden …
Plötzlich hörte er ein Auto. Sein Anwesen grenzte an eine wenig befahrene Landstraße. Vielleicht war es Chloe, die von der Mutter ihrer Freundin Mona nach Hause gefahren wurde. Als er auf die Lichtung zusteuerte, sah er Scheinwerfer.
Der Wagen fuhr im Schritttempo. Er spähte in die Dunkelheit, sein Blick fiel auf etwas Blaues, die Silhouette eines kleinen Kombi. Die Fenster waren geöffnet; er konnte Musik hören. Emmylou Harris. Er sah eine Frau am Steuer, dunkle Haare verdeckten das Profil, ein Arm hing im geöffneten Fenster, ein Ellbogen in schwarzem Leder glänzte im Mondlicht.
Für den Bruchteil von Sekunden wurden ihre Haare zurückgeweht und ihm war, als hätte sie den Kopf umgedreht und ihn entdeckt. Er erstarrte, genau wie der Hirsch. Ihre Blicke trafen sich, dann gab sie Gas und fuhr schneller. Obwohl er sie nie zuvor gesehen hatte, kam sie ihm irgendwie bekannt vor.
Während er seinen Weg durch die Apfelplantage fortsetzte, sah er immer wieder den Ellbogen vor sich, der aus dem Fenster ragte. Kühl und glänzend, blauschwarz, auf dem Sprung und bereit, die Flucht zu ergreifen: wie die Schwinge eines Raben.
Jane fand das Haus.
Sie war seit Jahren nicht mehr vorbeigefahren, deshalb hatte sie sich aus dem Internet mittels MapQuest die Wegbeschreibung ausgedruckt. Sie musste lediglich den Familiennamen, die Stadt und den Bundesstaat eingeben: »Chadwick, Crofton, Rhode Island«, und schon hatte ihr Computer eine perfekte Straßenkarte nebst Routenplaner ausgespuckt. Sie konnte sogar eine Luftansicht abrufen.
Im Lauf der Jahre hatte sie bei zahlreichen Besuchen im heimischen Rhode Island den Namen im Telefonbuch nachgeschlagen. Sie hatte eine Karte vom Twin Rivers Valley gekauft und die Straße am Rand der ausgedehnten Grünzone – Apfelgärten und ein Staatsforst – ausfindig gemacht. Und sie war an dem Haus vorbeigefahren. Unmittelbar vor ihrem Umzug nach New York. Sie war lange fort gewesen – vierzehn Jahre – und hatte den Weg beinahe vergessen.
MapQuest hatte sich als Geschenk des Himmels erwiesen: Sie hatte eine Luftaufnahme des Hauses entdeckt, das sich an das Ende der Auffahrt schmiegte und am Rand einer riesigen Obstplantage lag, mit Bächen und Tümpeln und Millionen wild wuchernder Apfelbäume. Die Suchmaschine war durch den Namen »Chadwick« in Verwirrung geraten, von denen es mehrere in Crofton zu geben schien, einschließlich einer Biologielehrerin, Mrs. Virginia Chadwick. Des Weiteren Eli und Sharon Chadwick, und jemand namens Dylan, der in der gleichen Straße
Weitere Kostenlose Bücher