Tanz im Mondlicht
Leben …«
»Schluss jetzt! Du kannst Salat und eine gebackene Kartoffel essen. Einverstanden?«
»Ich muss zur Arbeit. Ich esse dort eine Kleinigkeit von der Salatbar.«
»Ich dachte, du hättest dienstags frei.«
Sprachen sie eigentlich dieselbe Sprache? Lebten sie unter einem Dach, oder kam ihre Mutter von einem anderen Stern? War alles in Ordnung mit ihr? Chloe hatte ihren Dienst am Samstag mit Marty Ford getauscht und erinnerte sich deutlich daran, ihrer Mutter davon erzählt zu haben. Es hieß, dass alte Menschen abbauten – vergesslich wurden, nicht mehr in der Lage waren, die einfachsten Dinge im Auge zu behalten, wie ihre Termine und ihre Schuhe. Ihre Mutter war zweiundfünfzig, älter als manche Mütter ihrer Freundinnen, aber immer noch zu jung für einen Gedächtnisschwund – oder?
»Normalerweise habe ich heute frei, aber Marty hat mich gebeten, mit ihr zu tauschen«, erwiderte Chloe bedächtig. Sie starrte ihre Mutter an, hielt nach einem Symptom Ausschau. Sie hatte seit jeher Angst gehabt, dass ihre Mutter oder ihr Vater krank werden könnten – einfach aufhörten zu atmen und aus ihrem Leben verschwanden. Als sie noch klein war, pflegte sie am Bett ihrer Eltern zu stehen und zu beobachten, wie sich bei beiden der Brustkorb hob und senkte, um sich Gewissheit zu verschaffen, dass sie noch atmeten. Obwohl ihre Eltern nur stritten, wenn die Türen geschlossen waren, geschah dies mit einer Heftigkeit, dass sie oft fürchtete, einer von ihnen könnte tot umfallen, wenn sie so wütend und eindringlich miteinander flüsterten.
»Stimmt«, sagte ihre Mutter plötzlich und blickte hoch. »Du hast es mir erzählt. Es war mir entfallen. Warte, ich fahre dich hin.«
»Ich kann mit dem Rad fahren.«
»Nein, Kind. Es ist dunkel, wenn du nach Hause kommst, und du weißt, ich möchte nicht, dass du um die Zeit noch unterwegs bist.«
»Ich mache bald den Führerschein.«
»Das hat keine Eile.«
»Doch, hat es schon …«
»Wir werden sehen. Du bist gerade erst fünfzehn – zuerst musst du eine eingeschränkte Fahrerlaubnis für Anfänger beantragen.« Lächelnd streckte sie die Hand aus, als Chloe ihr aufhalf und sie vom Boden hochzog.
»Sieht hübsch aus.« Chloe deutete mit einem Kopfnicken auf die winzigen purpurfarbenen Stiefmütterchen.
»Danke.« Ihre Mutter wischte die Erde von ihren Handschuhen.
»Warum pflanzt du sie eigentlich? Wo wir doch so viele Wildblumen haben. Und die Apfelbäume kurz vor der Blüte stehen. Wildblumen sind wunderschön und brauchen überhaupt keine Pflege …«
»Wildwuchs ist nicht unbedingt schön. Die Apfelplantage sieht verlottert aus, ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.« Ihre Mutter runzelte die Stirn angesichts des Gestrüpps. »Und überhaupt, sie gehört uns nicht. Dein Onkel tut sein Bestes, um sie auf Vordermann zu bringen, aber er kämpft auf verlorenem Posten. Sie wurde zu lange vernachlässigt.«
Chloe spähte zu den Bäumen hinüber. Sie hatte gehört, wie sich ihre Eltern über Onkel Dylans Weigerung unterhielten, die seit langem in Familienbesitz befindliche, dem Untergang geweihte Plantage aufzugeben und sie lieber ihrem Schicksal zu überlassen. Sie hätten das Areal gerne planiert, um teure Eigenheime darauf zu errichten. Damit ließ sich mehr Geld verdienen.
Chloe verspürte ein schmerzhaftes Engegefühl in der Brust, wenn sie nur daran dachte; sie wusste, dass Onkel Dylans Anstrengungen, die Apfelplantage wieder zum Leben zu erwecken, etwas mit dem Verlust von Tante Amanda und Isabel zu tun hatten. Ihr Herz öffnete sich bei dem Gedanken an die knorrigen alten Apfelbäume, an die Vögel, die darin nisteten, an die wilden Katzen, die auf der Plantage jagten, an den Tod ihrer Tante und ihrer Cousine.
Isabel: Sie war wie eine Schwester für sie gewesen. Isabel hatte in New York City gewohnt, war aber an den Feiertagen nach Rhode Island gekommen, um ihre Großmutter zu besuchen und jeden Sommer für eine Woche zu bleiben. Damals hatte ihr Großvater noch gelebt; die Obstplantage befand sich in seinem Besitz, und er hatte viele Leute beschäftigt, die für ihn arbeiteten – die Äpfel pflückten, Apfelwein herstellten und die Erzeugnisse an einem Obststand am Straßenrand verkauften.
Als Isabel starb, war Chloe für einen ganzen Monat verstummt. Ihr war, als hätte man ihr das Herz aus dem Leib gerissen; sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie nach einem so tragischen Verlust weiterleben sollte. Sie lag reglos auf der Seite
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