Tanz im Mondlicht
wohnte.
Es war Elis und Sharons Anwesen, nach dem Jane heute Abend Ausschau hielt, als sie die menschenleere Landstraße entlangfuhr. Ihre Hände am Lenkrad zitterten. Der Duft von Apfelblüten erfüllte die Luft – Blüten, die sich jeden Moment öffnen konnten, silbrig rosa im kühlen Mondlicht, während das Fallobst vom Winter auf der Erde zu gären begann. Der Geruch war würzig, scharf und genauso alkoholhaltig wie Apfelwein. Sie fühlte sich wie berauscht bei dem Gedanken, an einen Ort zurückzukehren, den sie eigentlich meiden sollte.
Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Plantage mit den knorrigen, wunderschönen alten Apfelbäumen, deren Wurzeln tief in die Erde reichten, als hoffte und betete sie, dass all diese Bäume sie von ihrer Rastlosigkeit befreien konnten.
Ein Mann stand dort und sah sie an.
Bei seinem Anblick drohte ihr Herz auszusetzen. Er war groß, bärtig und sehr schlank, mit breiten Schultern. Das Gewicht einer Leiter und einer Säge, die beide im Mondschein glitzerten, schien schwer auf ihm zu lasten. Er spähte angestrengt in die Dunkelheit, als wäre er der Hüter der Plantage.
Janes Mund war trocken, und sie hatte das Gefühl, als wäre sie soeben beim unbefugten Betreten eines fremden Grundstücks ertappt worden. Der Mann hatte keine Miene verzogen, aber vermutlich missbilligte er ihr Verhalten tief in seinem Inneren genauso, wie Sylvie und ihre Mutter es getan hätten.
Sie gab Gas und brauste davon, vorbei an einem baufälligen, offenbar nicht mehr benutzten Obststand. Als sie die Adresse endlich erreichte, das Anwesen, das sie in Gedanken oft besucht und bei MapQuest in Augenschein genommen hatte, klopfte ihr Herz so heftig, dass sie an den Straßenrand fahren musste. Mit laufendem Motor parkte sie vor dem Barn Swallow Way Nummer 144 und sah hinüber.
Das Haus war immer noch klein und weiß. Und es hatte immer noch dunkelgrüne Fensterläden. Aber es gab auch etwas Neues: Eine Girlande aus Hagebuttensträuchern an der Haustür. Der Postkasten war nun blau gestrichen und trug die Inschrift »Familie Chadwick« in hübschen weißen Buchstaben. Im Erdgeschoss brannte Licht. Ein Fenster im ersten Stock war hell erleuchtet; es hatte rosafarbene Vorhänge. Jane betrachtete das Haus lange Zeit; es sah aus, als lebten dort nette Leute. Ihr Atem ging beinahe wieder normal.
So normal jedenfalls, wie Janes Atem sein konnte; er schien immer wieder ins Stocken zu geraten, irgendwo zwischen Mund und Herz, als wäre innerlich etwas Wichtiges entzweigegangen, was sich nicht wieder kitten ließ. Sie dachte unwillkürlich an eine Uhr, die vom Sims gefallen war: Die Zeiger bewegten sich allem Anschein nach und kamen im richtigen Tempo voran, aber nur rasselnd – als sei ein entbehrliches Teil abgebrochen und hätte sich im Inneren verfangen.
Auch jetzt spürte sie wieder dieses kleine Klicken, deutlicher als jemals zuvor. Das Einatmen schmerzte im gleichen Maß wie das Ausatmen. Sie wusste, dass in ihrem Inneren etwas zerbrochen war, vor langer, langer Zeit. Humpty Dumpty – das kleine Männchen, das von der Mauer fiel und in tausend Stücke zersplitterte – war immer derjenige Kinderreim gewesen, dem sie am wenigsten abzugewinnen vermochte; sie hatte nicht glauben wollen, dass manche Dinge nicht mehr reparabel waren, nicht mehr heilten.
Hier sah die Welt sehr heil aus.
Janes Anwesenheit würde niemandem helfen. Sie war selbstsüchtig – sie konnte die Stimme ihrer Mutter hören, die fragte: »Willst du so selbstsüchtig sein? Willst du das Leben aller Beteiligten ruinieren?«
Nein. Die Antwort lautete nein, das wollte sie nicht. Das hatte sie nie gewollt. Deshalb war sie Konditorin geworden, um Menschen glücklich zu machen und ihnen das Leben zu versüßen. Um Hochzeitstorten, Pasteten zum Erntedankfest, Napfkuchen für den ersten Schultag und Gebäck für den Kaffeeklatsch, vor allem aber Geburtstagstorten zu backen. Phantasievolle, köstliche, traumhafte Geburtstagstorten, mit ausgefallener, künstlerisch gestalteter Dekoration: Regenwälder am Amazonas, Märchenschlösser, Ozeandampfer und drei Eier in einem Vogelnest …
Die waren Janes Spezialität.
Sie bog in die Auffahrt ein und wendete. Dann blieb sie noch einen Augenblick stehen, blickte zu den rosafarbenen Vorhängen hinauf. Sie hätte gerne gewusst, was für einen Geburtstagskuchen Chloe von ihnen bekam. Chloe – so lautete ihr Name.
Sie holte tief Luft, dachte an den Mann im Apfelgarten. Sie fragte sich, ob
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