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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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physisch, denke ich schon, dass Männer ein starkes Verlangen nach Frauen haben. Du bist doch sexuell aufgeklärt, oder?«
    »Ich weiß ungefähr Bescheid«, sagte Yuki mit trockener Stimme.
    »Es gibt eben ein sexuelles Bedürfnis bei Männern, mit Frauen zu schlafen«, erklärte ich. »Das ist ganz natürlich. Es dient der Arterhaltung.«
    »Was kümmert mich die Arterhaltung? Das ist hier keine Hygienesprechstunde. Ich möchte etwas über den Sexualtrieb wissen. Wie funktioniert der?«
    »Nehmen wir an, du bist ein Vogel und liebst es, durch die Lüfte zu fliegen. Es macht dir Spaß. Aber aufgrund gewisser Umstände kannst du nur gelegentlich fliegen. Witterung, Windrichtung, Jahreszeiten – all das bestimmt, ob du fliegen kannst oder nicht. Doch je öfter es dir verwehrt bleibt, umso mehr Energie staut sich in dir auf, die dich gereizt macht. Du fühlst dich erniedrigt und bist wütend auf dich selbst, weil du nicht fliegen kannst. Verstehst du?«
    »Allerdings«, sagte Yuki. »Ich fühle mich ständig so.«
    »Na, dann weißt du ja, wovon ich rede. Das ist der Sexualtrieb.«
    »Wann bist du denn das letzte Mal in den Himmel geflogen? Ich meine, bevor Papa dir die Nutte vorbeigeschickt hat?«
    »Ende letzten Monats«, erwiderte ich.
    »Und, war es schön?«
    Ich nickte.
    »Macht es immer Spaß?«
    »Nein, das kann man nicht sagen«, erwiderte ich. »Es treffen schließlich zwei unvollkommene Menschenwesen aufeinander, das kann nicht immer gut gehen. Es gibt auch Fehlschläge. Oder du fliegst unbekümmert durch die Lüfte, und plötzlich taucht ein Baum auf, den du völlig übersehen hast. Dann kracht es natürlich.«
    »Hm«, murmelte Yuki und dachte darüber nach. Vermutlich malte sie sich aus, wie ein abgelenkter Vogel im Flug das frontale Hindernis übersieht und dagegen prallt. Ich war ein bisschen verunsichert. Hatte ich es wirklich gut erklärt? Oder war ich völlig auf dem Holzweg? Sie war immerhin in einem höchst sensiblen Alter. Ach was! Sie würde es später selbst herausfinden.
    »Mit zunehmendem Alter werden die Chancen allerdings immer besser, dass es gut funktioniert«, fuhr ich in meiner Erklärung fort. »Man hat den Kniff raus. Lernt, Wetter und Windrichtung einzuschätzen. Aber die Kehrseite der Medaille ist, dass das sexuelle Begehren dann auch abnimmt. So ist das.«
    »Tragisch«, sagte Yuki kopfschüttelnd.
    »Allerdings«, stimmte ich zu.
    Hawaii.
    Wie viele Tage war ich eigentlich schon auf dieser Insel? Das Zeitgefühl war mir abhanden gekommen. Auf gestern folgte heute, und auf heute folgte morgen. Die Sonne ging auf, die Sonne ging unter. Der Mond ging auf, der Mond ging unter. Die Flut kam, ebbte ab, kam wieder und ebbte wieder ab.
    Ich schaute im Kalender meines Notizbuchs nach: Wir waren seit zehn Tagen hier! Ende April nahte. Meine Ferien, die ich vorerst auf einen Monat festgelegt hatte, waren vorbei. Was sollte ich tun? Die Schrauben in meinem Kopf saßen locker. Sehr locker. Surfen und Piña Colada. An sich nicht gerade übel.
    Mein Ausgangspunkt war eigentlich Kiki gewesen, ich wollte ihre Spur verfolgen. Ich folgte dem Fluss der Ereignisse, der mich hier hatte stranden lassen. Seltsame Gestalten waren mir begegnet und hatten mich immer wieder abgelenkt. Und jetzt lag ich hier im Schatten von Kokospalmen, schlürfte exotische Drinks und lauschte Kalapana-Klängen.
    Irgendwo musste die Strömung wieder in die richtige Bahn gelenkt werden. May war tot. Ermordet. Die Polizei war angerückt. Was mochten die Ermittlungen inzwischen ergeben haben? Hatten Schöngeist und Fischer ihre Identität aufklären können? Wie mochte es Gotanda gehen? Er hatte so erschöpft ausgesehen. Was hatte er mit mir bereden wollen? Alles hing unausgegoren in der Luft. Ich musste diese halb fertigen Dinge zu einem Abschluss bringen. Und das bedeutete, dass ich allmählich die Heimreise antreten musste.
    Doch ich kam einfach nicht in die Gänge. Es war das erste Mal seit langem, dass wir uns beide richtig entspannen konnten. Wir hatten es bitter nötig gehabt. Hier gab es so gut wie nichts, worüber ich nachdenken musste. Mein Kopf hatte Ferien. Die Tage bestanden aus Schwimmen, Bräunen, Bier trinken, Inseltrips mit den Stones oder Bruce Springsteen, die Nächte aus Strandspaziergängen im Mondschein und Drinks in Hotelbars. Mir war klar, dass es so nicht ewig weitergehen konnte. Ich schaffte es nur nicht, mich von hier loszueisen. Ich brachte es einfach nicht übers Herz zu sagen: »Wir müssen

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