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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich wieder Schritte. Exakt vier. Erneut Stille.
    Das Geräusch war von rechts gekommen. Ich trat ins Zimmer und entdeckte neben dem Fenster eine weitere Tür, die sich ebenfalls öffnen ließ. Sie führte zu einem Treppenhaus. Ich ergriff das kalte metallene Geländer und ging vorsichtig mit lautlosen Schritten die Stufen in die Finsternis hinauf. Es war eine sehr steile Treppe. Vermutlich eine Feuerstiege. Ich war mir sicher, oben Geräusche zu hören. Dort angelangt, fand ich wieder eine Tür. Ich tastete nach einem Lichtschalter, fand aber keinen. Also drehte ich den Knauf und öffnete die Tür im Dunkeln.
    In diesem Raum war es zwar nicht ganz so stockfinster wie im Treppenhaus, aber man konnte trotzdem so gut wie nichts erkennen, nur, dass es ein ziemlich großer Raum war. Vielleicht ein Penthouse oder ein Speicher. Es gab keine Fenster, oder falls doch, waren sie verdunkelt. An der Decke befanden sich ein paar Luken, aber der Mond stand noch nicht hoch genug, um Licht zu spenden. Lediglich der schwache, reflektierte Schimmer der spärlichen Straßenbeleuchtung drang durch die Öffnungen, was jedoch nicht viel nützte.
    »Kiki!«, rief ich mit vorgestrecktem Kopf in die unheimliche Finsternis.
    Keine Antwort.
    Was sollte ich tun? Drinnen war es zu dunkel. Also blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten. Vielleicht würden sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Oder es ereignete sich etwas Neues.
    Ich weiß nicht, wie lange ich da stand, angestrengt in die Dunkelheit starrte und lauschte. Irgendwann fiel ein wenig mehr Licht ins Zimmer. War inzwischen der Mond aufgegangen? Oder waren es die Straßenlaternen? Ich ließ den Türknauf los und ging ins Zimmer hinein, wobei ich Acht gab, wo ich hintrat. Meine Gummisohlen schmatzten laut auf dem Boden. Es klang genauso seltsam und unwirklich wie die knallenden Absätze vorhin, denn die räumlichen Dimensionen waren nicht zu ermessen.
    »Kiki!« rief ich erneut, aber es blieb still.
    Ich hatte mich nicht getäuscht, es war tatsächlich ein riesiger, leerer Raum. Die Luft stand still. Ich schaute mich um und entdeckte dann doch vereinzelte Möbelstücke in den Ecken, die aber nicht deutlich zu erkennen waren. Graue Silhouetten, wohl ein Sofa, Stühle, ein Tisch und ein Schrank. Sonderbare Kulisse. Die Möbel sahen gar nicht aus wie Möbel. Alles wirkte irreal. Angesichts der Größe des Zimmers war es erschreckend spärlich möbliert. Ein zentrifugal verzerrter, unwirklicher Lebensraum.
    Ich strengte meine Augen an, um irgendwo Kikis weiße Schultertasche zu entdecken. Ihr blaues Kleid wäre vermutlich in der Dunkelheit nicht zu sehen. Aber das Weiß der Tasche musste erkennbar sein. Vielleicht saß Kiki auf dem Sofa oder auf einem der Stühle.
    Doch die Tasche war nirgends zu sehen. Auf dem Sofa und den Stühlen lagen lediglich zerknüllte weiße Tücher oder dergleichen. Vermutlich Leinenbezüge. Doch als ich näher trat, entpuppte sich das weiße Etwas als Knochen. Auf dem Sofa saßen zwei menschliche Skelette. Beide vollständig, es fehlte kein Knöchelchen. Sie saßen da, als wären sie noch am Leben, das eine größer, das andere kleiner von Gestalt. Das größere Skelett hatte einen Arm auf die Sofalehne gelegt, das kleinere hielt beide Hände brav im Schoß. Die beiden sahen aus, als wären sie, ohne es zu bemerken, aus dem Leben gerissen worden. Sie waren einfach sitzen geblieben, während der Körper bis auf das Skelett verweste. Sie schienen sogar zu lächeln und waren erstaunlich weiß.
    Ich empfand keine Furcht. Warum, weiß ich nicht, aber ich war ganz gelassen. Sie saßen einfach nur reglos da. Wie der eine Kommissar gesagt hatte, Knochen sind rein und still. Die beiden waren definitiv, für alle Zeiten tot. Es gab nichts zu befürchten.
    Ich ging durch den Raum und schaute mich um. Auf jedem Stuhl saß ein Skelett. Im ganzen sechs. Bis auf eines waren alle vollständig. Sie mussten vor langer, langer Zeit gestorben sein. Sie saßen in ganz natürlichen Positionen da, als hätten sie ihren Tod nicht mitbekommen. Ein Skelett schien fernzusehen. Das Gerät war natürlich ausgeschaltet, aber der Mann (seine Größe ließ ein männliches Wesen vermuten) starrte dennoch in die Braunsche Röhre. Seine Augenhöhlen waren genau darauf gerichtet. Ein leerer Blick auf einen leeren Bildschirm. Ein anderes Skelett beugte sich über einen gedeckten Tisch. Was immer sich einst in den Schüsseln und auf den Tellern befunden hatte, es hatte sich inzwischen in

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