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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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menschliche Bewusstsein ragt genauso tief ins Dunkle. Alles ist überaus verzwickt, komplex, unauflösbar. Den wahren Grund kennt nur derjenige selbst, wenn überhaupt.«
    Schon lange lag seine Hand auf der Türklinke der Ausgangspforte. Er hat nur noch auf die richtige Gelegenheit gewartet. Niemand war schuld.
    »Bestimmt hasst du mich dafür«, sagte Yuki.
    »Ich hasse dich nicht«, erwiderte ich.
    »Vielleicht nicht jetzt, aber später wirst du mich dafür hassen.«
    »Nicht jetzt und nicht später. Das ist nicht meine Art.«
    »Na, vielleicht nicht hassen, aber etwas geht gewiss dadurch verloren«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ganz bestimmt.«
    Ich schaute kurz zu ihr hinüber. »Komisch, Gotanda hat genau das Gleiche gesagt.«
    »Echt?«
    »Ja. Auch er hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass ihm etwas verloren geht. Ich frage mich, was dich so beunruhigt. Alles ist irgendwann einmal vorbei. Unser Leben wandelt sich ständig. Und dementsprechend sind auch die meisten Dinge um uns herum vergänglich. Dagegen kann man nichts tun. Wenn für etwas die Zeit gekommen ist, verschwindet es, aber bis dahin ist es da. Du wirst bald erwachsen sein. In zwei Jahren wird dir dein hübsches Kleid nicht mehr passen. Du wirst dich an den Talking Heads wahrscheinlich satt gehört haben. Und du wirst auch keine Lust mehr haben, mit mir durch die Gegend zu fahren. Da kann man nichts machen. Überlass dich dem Fluss. Es hat keinen Sinn, darüber nachzugrübeln.«
    »Aber ich werde dich immer gern haben. Das hat nichts mit Zeit zu tun.«
    »Freut mich zu hören, denn ich würde auch gern so denken«, sagte ich. »Aber um es fair auszudrücken, bist du in Sachen Zeit noch sehr unerfahren. Man beschließt besser nicht so viele Dinge im Voraus. Die Zeit gleicht der Verwesung. Die Menschen verändern sich auf eine Art und Weise, wie man es nie erwartet hätte.« Yuki schwieg eine Weile. Der Rekorder wechselte automatisch zu Seite B.
    Sommer. Wo man auch hinschaute, sprang einem der Sommer in die Augen. Polizisten, Schüler, Busfahrer, alle in kurzärmeligen Hemden. Manche Mädchen trugen sogar schon ärmellose Sachen. Dabei hatte es vor kurzem noch geschneit. Mitten im Schneegestöber hatte ich mit Yuki im Duett Help me Rhonda gesungen. Das war erst zweieinhalb Monate her.
    »Und du hasst mich wirklich nicht?«
    »Wo denkst du hin«, sagte ich. »Natürlich nicht. Dazu gibt es keinen Grund. In dieser unabsehbaren Welt kann ich wenigstens das mit Bestimmtheit sagen.«
    »Absolut?«
    »Absolut. Zweitausendfünfhundertprozentig.«
    Sie lächelte. »Das wollte ich hören.«
    Ich nickte.
    »Du hast Gotanda sehr gern gehabt, nicht wahr?« sagte Yuki.
    »Ja.« Meine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich konnte sie gerade noch zurückdrängen und holte tief Luft. »Bei jedem Treffen mochte ich ihn mehr. Das passiert einem nicht so oft, besonders nicht in meinem Alter.«
    »Hat er sie denn umgebracht?«
    Ich schaute durch meine Sonnenbrille auf die frühsommerliche Straßenszene. »Das weiß niemand. Es ist aber auch egal.«
    Er hat nur auf eine Gelegenheit gewartet.
    Yuki lehnte sich aus dem Fenster. Die Talking Heads-Kassette lief immer noch. Yuki kam mir ein wenig erwachsener vor als damals bei unserer ersten Begegnung. Aber vielleicht täuschte ich mich auch. Es war erst zweieinhalb Monate her. Sommer.
    »Was hast du denn so vor?« fragte Yuki.
    »Gute Frage«, sagte ich. »Ich habe noch nichts beschlossen. Auf jeden Fall muss ich erst noch einmal nach Sapporo. Morgen ober übermorgen. Ich muss dort unbedingt noch etwas erledigen.«
    Ich musste Yumiyoshi treffen. Und den Schafsmann. Im Hotel Delfin gab es einen Ort, der für mich bestimmt war. Ich war ein Teil davon. Und jemand weinte um mich. Ich musste noch mal dorthin zurück und den offenen Kreis schließen.
    An der Yoyogi-Hachiman-Station wollte Yuki aussteigen. »Ich nehme die Odakyu-Linie«, sagte sie.
    »Ich kann dich doch hinfahren«, bot ich ihr an. »Ich habe heute nachmittag ohnehin nichts vor.«
    Sie lächelte. »Danke, aber es ist ziemlich weit weg, mit dem Zug geht es schneller.«
    »Merkwürdig«, sagte ich und nahm die Sonnenbrille ab. »Du hast ›Danke‹ gesagt.«
    »Darf ich doch sagen, oder?«
    »Na klar.«
    Sie sah mich ziemlich lange an. Ihr Gesicht veränderte sich kaum. Ein Mädchen, das so gut wie keine Miene verzog. Nur eine kleine Nuance im Glanz ihrer Augen, in der Mundhaltung. Kaum merklich straffte sich ihr Mund, ihr

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