Tanz mit dem Schafsmann
Blick wurde schärfer und wacher. Wie ein sengender sommerlicher Lichtstrahl, der sich funkelnd auf dem Wasser brach.
»Ich bin einfach nur beeindruckt«, sagte ich.
»Spinner«, sagte Yuki und stieg aus. Sie warf die Tür zu und ging davon, ohne sich noch einmal umzuschauen. Ich sah ihr nach, bis ihre schlanke Gestalt in der Menge untertauchte. Als sie außer Sicht war, überkam mich Traurigkeit. Als hätte ich eine Liebe verloren. Summer in the City von Loving Spoonful vor mich hinpfeifend, fuhr ich den Omotesandô-Boulevard hinunter nach Aoyama, um bei Kinokuniya einzukaufen. Als ich dort parkte, fiel mir jedoch ein, dass ich ja eventuell am nächsten oder übernächsten Tag nach Sapporo wollte. Ich brauchte also nicht zu kochen und konnte mir den Einkauf sparen. Was sollte ich mit der ersparten Zeit anfangen? Ich hatte mal wieder nichts zu tun. Jedenfalls vorläufig nicht.
Ich fuhr noch ein wenig durch die Gegend, dann kehrte ich in mein Apartment zurück. Eine gähnende Leere schlug mir entgegen. Oh Mann, dachte ich. Ich verkroch mich ins Bett und starrte an die Decke.
Dafür gibt es eine Bezeichnung – Verlustgefühl , sagte ich hörbar. Kein angenehm klingendes Wort.
Kuckuck, rief May. Ihr Ruf hallte laut durch mein leeres Apartment.
42
Ich habe von Kiki geträumt. Zumindest glaube ich, dass es ein Traum war. Wenn nicht, dann war es ein traumähnlicher Akt. Was soll das sein – ein traumähnlicher Akt? Ich weiß es selbst nicht. Aber so etwas scheint es zu geben. Wie so viele Dinge am Rande unseres Bewusstseins, für die wir keine Namen haben.
Der Einfachheit halber nenne ich es einen Traum. Ich denke, diese Bezeichnung kommt dem Wesen der Sache noch am nächsten.
Es war kurz vor Tagesanbruch, als ich von ihr träumte. Die Zeit im Traum war die gleiche – Morgendämmerung.
Ich telefonierte. Ein Auslandsgespräch. Ich wählte die Nummer, die mir die Frau, die ich für Kiki gehalten hatte, auf dem Fensterbrett in dem Zimmer in Honolulu Downtown hinterlassen hatte. Ich hörte das Knacken der geschalteten Leitungen. Mir war, als würde ich verbunden. Ziffer für Ziffer wurde geschaltet. Nach einer kurzen Pause ertönte das Rufzeichen. Ich presste den Hörer ans Ohr und zählte die gedämpften Klingeltöne – fünf, sechs, sieben, acht. Beim zwölften Mal nahm jemand ab. Im selben Moment befand ich mich in dem Zimmer. In dem großen, leeren Raum – dem ›Totenkabinett‹ in Honolulu Downtown. Nach den Sonnenstrahlen zu urteilen, die durch die Oberlichter ins Zimmer fielen, schien es Mittag zu sein. Feine Staubpartikel flirrten in den lotrechten, messerscharf konturierten Lichtsäulen, die das Zimmer mit Helligkeit erfüllten. Wo kein Licht hinfiel, war es dunkel und kalt. Der Kontrast war markant. Wie auf dem Meeresgrund, dachte ich.
Ich setzte mich aufs Sofa, den Hörer am Ohr. Die Telefonschnur zog sich endlos lang durch den Raum, durch die dunkle Zone, durch die Lichtzone, bis sie hinten in einem düsteren Winkel verschwand. Es war eine extrem lange Schnur. Solch eine lange Schnur hatte ich noch nie gesehen. Ich hatte das Telefon auf dem Schoß und schaute mich im Zimmer um.
Die Anordnung der Möbel hatte sich seit dem vorigen Mal nicht verändert. Bett, Tisch, Sofa, Stühle, Fernseher, Stehlampe – alles stand unnatürlich weit voneinander im Raum. Es roch auch so wie damals. Der Geruch eines Zimmers, das lange nicht gelüftet worden war. Abgestanden und muffig. Doch die sechs Skelette waren nicht mehr da. Weder im Bett noch auf dem Sofa noch im Sessel vor dem Fernseher oder am Esstisch. Allesamt verschwunden. Das benutzte Geschirr auf dem Esstisch ebenfalls. Ich stellte das Telefon neben mich aufs Sofa und stand auf. Der Kopf tat mir etwas weh. Ein stechender Schmerz, wie wenn man einen schrillen Pfeifton vernimmt. Ich setzte mich wieder hin.
Ganz hinten im Halbdunkel konnte ich erkennen, dass sich etwas auf dem Stuhl regte. Ich strengte meine Augen an. Dieses Etwas erhob sich und kam mit klackernden Schritten auf mich zu. Es war Kiki. Sie tauchte langsam aus dem Dunkel auf, durchquerte den lichten Bereich und setzte sich an den Esstisch. Sie trug das Gleiche wie damals: dunkelblaues Kleid und weiße Schultertasche.
Von ihrem Stuhl aus sah sie mich an. Mit ganz ruhiger Miene. Sie befand sich weder im Dunkeln noch im Hellen, sondern genau in der Zone dazwischen. Ich wollte aufstehen und zu ihr gehen, fühlte mich jedoch gehemmt. Außerdem pochten meine Schläfen immer noch ein
Weitere Kostenlose Bücher