Tanz mit dem Schafsmann
Deine Verbindungen lösen sich in Nichts auf. Verschwinden für immer und ewig . Und dann kannst du nur noch in dieser Welt existieren. Wirst allmählich in diese Welt hineingezogen. Achte also darauf, dass deine Füße nicht innehalten. Lass dich nicht abhalten, auch wenn es dir töricht erscheinen mag. Tanzen, einfach weitertanzen. Dann wird sich die Starre lösen, wenn auch nur langsam. Zum Teil ist es noch zu retten. Alles Brauchbare kann benutzt werden. Tu dein Bestes. Es gibt nichts zu befürchten. Du bist sicher erschöpft. Müde und verängstigt. Das macht jeder mal durch. Man hat das Gefühl, alles läuft schief. Deshalb erstarren die Beine.«
Ich schaute hoch und betrachtete erneut das Schattenspiel an der Wand.
»Tanzen ist alles«, fuhr der Schafsmann fort. »Brillant tanzen. Sodass alle dich bewundern. Dann kann ich vielleicht etwas für dich tun. Einfach nur tanzen. Solange die Musik spielt.«
Tanzen. Solange die Musik spielt.
Seine Worte hallten in meinen Gedanken wider.
»Sag mal, was meintest du eigentlich mit dieser Welt ? Du hast gesagt, wenn ich erstarre, werde ich in diese Welt hineingezogen. Aber das hier gibt es doch nur für mich. Diese Welt existiert doch nur meinetwegen. Weshalb sollte es dann ein Problem sein, wenn ich in meine eigene Welt gelange? Hast du nicht gesagt, dies alles hier gebe es wirklich ?«
Der Schafsmann schüttelte den Kopf. Sein Schatten bewegte sich heftig. »Das hier ist eine ganz andere Wirklichkeit als drüben. Du sollst hier noch nicht leben. Es ist zu dunkel und zu weit. Es ist schwierig für mich, dir das zu erklären. Und wie ich dir vorhin gesagt habe, weiß auch ich nichts Näheres darüber. Natürlich ist das hier real. Unsere Begegnung, unser Gespräch – all das findet wirklich statt. Daran besteht kein Zweifel. Aber es gibt nun mal nicht bloß eine einzige Wirklichkeit, sondern es existieren parallele Wirklichkeiten. Es gibt mehrere Möglichkeiten von Realität. Ich habe diese hier gewählt, weil es keine Kriege gibt. Und weil es nichts gab, was ich loswerden musste. Doch bei dir ist das anders. In dir ist noch deutlich Lebenswärme vorhanden. Dieser Ort wäre zu kalt für dich. Hier gibt es nichts zu essen. Du solltest dich von hier fernhalten.«
Von ihm darauf aufmerksam gemacht, spürte ich auf einmal, wie kalt es im Zimmer war. Ich steckte beide Hände in die Taschen und begann zu zittern.
»Frierst du?«, fragte der Schafsmann.
Ich nickte.
»Die Zeit ist um«, sagte der Schafsmann. »Je mehr Zeit vergeht, umso kälter wird es. Du solltest langsam aufbrechen. Hier ist es zu kalt für dich.«
»Warte, noch eins, was ich dich fragen möchte. Es ist mir vorhin eingefallen. Ich habe das Gefühl, dass ich in meinem bisherigen Leben immer nach dir gesucht habe, denn ich habe deinen Schatten an mehreren Orten gesehen. Du schienst in verschiedenen Gestalten dort zu sein. Es waren ganz vage Erscheinungen. Vielleicht war es auch nur ein kleiner Teil von dir. Doch wenn ich jetzt zurückdenke, dann warst stets du es. Das ist mein Eindruck.«
Der Schafsmann formte mit seinen Fingern ein undefinierbares Zeichen. »Ja, das stimmt. Du hast Recht. Ich war immer da. Als Schatten oder als Fragment.«
»Aber das verstehe ich nicht«, warf ich ein. »Jetzt kann ich doch ganz deutlich dein Gesicht und deine Gestalt wahrnehmen. Was früher unsichtbar war, ist nun erkennbar. Wieso?«
»Weil du bereits viel verloren hast«, antwortete er ruhig. »Außerdem sind die Orte, an die du dich begeben sollst, auch weniger geworden. Deshalb kannst du jetzt meine richtige Gestalt erkennen.«
Ich verstand nicht so recht, was er meinte.
»Bin ich hier etwa im Totenreich?«, fragte ich unwillkürlich.
»Nein«, erwiderte der Schafsmann. Seine Schultern bebten heftig, als er Atem holte. »Nein, das ist nicht die Welt des Todes. Du und ich, wir beide sind am Leben. Ungefähr gleich deutlich. Wir atmen, wir reden. Das ist Realität.«
»Ich begreife es nicht.«
»Tanze«, sagte der Schafsmann. »Das ist der einzige Weg. Ich würde dir gern alles besser erklären. Aber ich kann nicht. Ich kann dir nur sagen: tanze. So gut du kannst. Du hast keine andere Wahl.«
Die Temperatur im Raum war plötzlich stark gesunken. Diese Kälte kenne ich, dachte ich zitternd. Eine bis ins Mark dringende, klamme Kälte, die ich irgendwann, irgendwo schon einmal erlebt hatte. Vor langer Zeit, an einem fernen Ort. Aber wo war das? Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern. Irgendwo in
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