Tanz mit dem Schafsmann
kann.«
Sie schnappte sich die Karte, warf einen kurzen Blick drauf und verstaute sie dann in ihrer Manteltasche.
»Komischer Name«, sagte sie.
Ich zog die schweren Koffer vom Rücksitz und schleppte sie in den vierten Stock. Yuki holte die Schlüssel aus ihrer Schultertasche und schloss die Wohnung auf. Ich trug die Koffer hinein. Das Apartment bestand aus Wohnküche, Schlafzimmer und Bad. Das Gebäude war nagelneu, und die perfekt ausgestattete Wohnung sah aus wie ein Modellraum. Möbel, Elektrogeräte, Geschirr – alles wirkte chic und kostspielig, doch irgendwie auch unbenutzt, ohne einen Hauch von Leben. Als hätte man alles in drei Tagen mit viel Geld arrangiert. Sehr geschmackvoll, sehr unwirklich.
»Mama benutzt es nur ab und zu«, erklärte Yuki, als sie sah, wie ich das Zimmer musterte. »Sie besitzt in der Nähe noch ein Studio, wo sie sich überwiegend aufhält, wenn sie in Tokyo ist. Dort schläft und isst sie. Hierher kommt sie sehr selten.«
»Aha«, sagte ich. Eine viel beschäftigte Frau.
Yuki zog ihre Pelzjacke aus, hängte sie auf einen Bügel und zündete den Gasofen an. Dann holte sie sich ein Päckchen Virginia Slim, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie cool mit einem Streichholz an. Dass ein Mädchen in dem Alter raucht, hielt ich für ausgesprochen schlecht. Sowohl für die Gesundheit als auch für die Haut. Aber ich sagte nichts, denn es sah einfach umwerfend aus, wie sie die Zigarette zwischen die scharf konturierten Lippen steckte und die Lider mit den langen Wimpern sich beim Anzünden anmutig wie Mimosenblätter senkten. Die Ponysträhnen auf ihrer Schläfe erzitterten bei jeder leisen Bewegung. Ein perfektes Bild. Wenn ich fünfzehn wäre, würde ich mich garantiert in sie verlieben, dachte ich erneut. Eine fatale Leidenschaft gleich einer Schneelawine im Frühjahr, die mich völlig hilflos und wahnsinnig unglücklich machen würde. Yuki erinnert mich an meine Jugendliebe. An ein Mädchen, in das ich mit dreizehn oder vierzehn verschossen war. Das herzzerreißende Gefühl von damals kam in mir hoch.
»Soll ich dir einen Kaffee machen«, fragte Yuki.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nach Hause. Es ist spät.«
Yuki legte die Zigarette in den Aschenbecher und erhob sich, um mich zur Tür zu begleiten.
»Pass mit dem Gasofen und den Zigaretten auf«, ermahnte ich sie.
»Wie mein Vater.« Ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Als ich in meiner eigenen Wohnung in Shibuya ankam, ließ ich mich erst einmal aufs Sofa fallen und trank ein Bier. Dann holte ich die Post aus dem Briefkasten. Nichts außer Geschäftskram. Ich schlitzte die Kuverts vorerst nur auf und ließ sie auf dem Tisch liegen. Lesen konnte ich die vier, fünf Briefe später. Ich war völlig ausgelaugt, wollte absolut nichts mehr tun. Innerlich war ich jedoch derart aufgekratzt, dass ich nicht einschlafen konnte. Was für ein langer Tag! Und wie er sich hingezogen hatte. Ich hatte das Gefühl, den ganzen Tag Achterbahn gefahren zu sein. Mein Körper vibrierte noch immer.
Ich überlegte, wie viel Tage ich eigentlich in Sapporo zugebracht hatte, aber ich bekam es nicht mehr zusammen. Mir schwirrte der Kopf, und mein Schlafrhythmus war völlig durcheinander. Dieser ewig graue Himmel. Die Chronologie der Ereignisse war mir nicht mehr klar. Zuerst hatte ich eine Verabredung mit der jungen Frau von der Rezeption. Dann das Telefonat mit meinem Expartner über das Hotel Delfin. Meine Begegnung mit dem Schafsmann. Im Kino einen Film angeschaut, in dem Kiki und Gotanda mitspielten. Mit einem hübschen dreizehnjährigen Mädchen Songs von den Beach Boys mitgesungen. Rückkehr nach Tokyo. Wie viel Tage mochten das insgesamt gewesen sein? Ich schaffte es nicht, sie zu zählen.
Morgen ist auch noch ein Tag, sagte ich mir. Über das, was sich verschieben lässt, werde ich später nachdenken.
Ich ging in die Küche, schenkte mir ein Glas Whiskey ein und trank ihn pur. Dann aß ich ein paar Cracker aus einer angebrochenen Packung. Sie waren genauso latschig wie meine mentale Verfassung. Ich legte eine alte Lieblingsplatte auf und ließ sie leise vor sich hindudeln: die Modernaires mit nostalgischen Tommy-Dorey-Songs. Ein bisschen anachronistisch, genauso wie meine mentale Verfassung. Und ein bisschen zerkratzt, aber das stört ja niemanden. Perfekt auf ihre Art, aber zu nichts führend. Wie meine mentale Verfassung.
Was ist denn los? sprach Kiki in meinen Gedanken.
Kameraschwenk. Gotandas feingliedrige
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