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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
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kannte, lieh man ihr erst recht nichts. Verkäufer besaßen einen unfehlbaren Blick, der die Abgestürzten, die Verarmten entlarvte.
    Vor einer Litfaßsäule blieb sie stehen. Auf dem Plakat des Wintergartens prangte ihr Name, klein zwar, aber deutlich lesbar unter dem dicken Schriftzug »Neues Programm«: Nele Stern. Barfußtänzerin.
    An der Hauswand daneben hing ein Schild: Einkauf Lumpen Knochen usw. Auf Bestellung wird abgeholt. Minna Neumann.
    Mich könnt ihr auch gleich abholen, dachte Nele. Der Kopf schmerzte ihr, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie fühlte sich ausgenutzt, betrogen. Wer bin ich denn, dachte sie, eure Ausziehpuppe? Sie ballte die Fäuste.
    Ich tanze, verdammt noch mal! Ich tanze. Mit einem wütenden Aufschrei warf sie das Bein in ein Grand battement, drehte einige Châinés, sprang in einer Reihe kleiner, aggressiver Jetés nach vorne und trat zornig gegen das Tor der Holz & Kohlen Handlung Rudolf Heinrich. Sie ging einige Schritte. Vor den nassen Kohlenhaufen verfiel sie wieder in einen Tanz zu einer Musik, die nur sie hören konnte. Die regenglänzende Straße war ihre Bühne.
    Nele drehte sich, sah zum Himmel empor, flog davon. Ja, so wollte sie tanzen. All ihre Gefühle wollte sie durch den Körper zum Ausdruck bringen, aufrichtig sollte ihr Tanz sein und vom tiefsten Inneren herrühren. Sie blieb stehen, verharrte auf der kalten Straße und forschte, welche Bewegung das Herz ihr eingab. Da löste sich ihre Starre, sie fiel in einen weichen Bogen der Trauer. Nele tanzte ihre Verletzung. An einem Bauzaun von groben Brettern kauerte sie sich nieder und fing an zu weinen.
    Sie hörte Schritte. Erschrocken sah sie hoch. Ein Mann mit Spazierstock kam die Straße herunter, gefolgt von zwei Burschen, die ihn einholten. Der erste Junge sprang ihm in den Weg und fragte: »Bitte, können Sie mir die Uhrzeit sagen?«
    Während der Passant unter dem Mantel nach seiner Taschenuhr grub, zog ihm der zweite von hinten einen Seidenshawl um den Hals. Der Mann ließ den Stock fallen, griff sich an den Hals, röchelte.
    Der Junge, der den Mann nach der Uhrzeit gefragt hatte, fasste ihm nun mit geübtem Griff in die Manteltaschen, zerrte Brieftasche und vergoldete Uhr heraus und nickte seinem Freund zu. Der zog noch einmal den Shawl an, dann löste er ihn, und sie rannten mit ihrer Beute davon.
    Der Mann hustete. Er hob den Spazierstock auf, fuchtelte hilflos damit herum, stolperte den Dieben nach und wollte etwas rufen, aber seiner Kehle entrang sich nur ein Krächzen. Ein weiterer Hustenanfall folgte.
    Nele eilte zu ihm. »Geht es?«, fragte sie. »Bekommen Sie Luft?«
    »Die haben meine Brieftasche.«
    »Was tun Sie auch in der Luisenstadt, allein auf der Straße? Sie hätten sich eine Kraftdroschke nehmen sollen.«
    Allmählich gelang ihm das Atmen besser. »Sie sind ja genauso allein unterwegs, und dazu als Frau!«
    »Ich wohne hier«, sagte sie. »Das ist etwas anderes. Wo müssen Sie hin?«
    »Zum Görlitzer Bahnhof. Lassen Sie mich.« Er richtete sich auf. »Von einem hab ich das Gesicht gesehen. Der soll bloß nicht glauben, dass ich mich schäme, zur Polizei zu gehen.« Er stelzte mit ärgerlichen Schritten davon.
    Offenbar wusste er nicht, dass es hier zum Alltag gehörte, sich zu verstecken. Wer keine Miete bezahlen konnte, lebte illegal im Keller für einen Bruchteil der Kosten und musste sich bei Hausbesuchen vor den staatlichen Inspekteuren verbergen. Die Höfe, Quergebäude und Hinterhäuser boten genügend Möglichkeiten zum Unterschlüpfen, auch für Diebe.
    Aber während die Kinder dieser Straße vom zehnten Lebensjahr an in einer Fabrik arbeiteten, ging er vermutlich mit seinen Sprösslingen spazieren, Jungs wie Mädchen in schneeweißen Matrosenanzügen, die Mädchen mit einer weißen Schleife im Haar, einer gro ßen, denn je größer die Schleife war, als desto feiner galt die Familie.
    Sie überquerte die Ritterstraße, über Holzpflaster hinweg, es war glitschig und angeschwollen vom Regenwasser und schon seit Jahrzehnten im Zerfall begriffen. Zwischen den Hölzern sammelte sich Schmutz, Nährboden, auf dem Unkraut spross.
    Jetzt an der Wassertorstraße vorbeigehen, nicht nach Hause, nicht zu den Vorwürfen und dem enttäuschten Gesicht der Mutter, einfach weiterlaufen aus Berlin hinaus, bis an die Alpen und danach ans Meer.
    Zigarettenstummel schwammen in den Pfützen. Hinter fünfstöckigen Häusern folgte Hof auf Hof, einer düsterer als der andere und so eng, dass die Dächer

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