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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
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und durch die undichten Fenster drang Staub in die Wohnung ein, der sich auf den Fensterbrettern, auf dem Tisch, auf jedem Möbelstück sammelte. »Und das Bett?«, sagte Nele. »Das hätten wir damals auch nicht auf Teilzahlung kaufen sollen, fünfzehn Mark, du wusstest genau, dass wir die Monatsraten nicht bezahlen können.«
    »Wo hätte ich denn schlafen sollen? Auf einem Strohsack am Boden? Ich bin eine alte Frau. Du wolltest, dass ich nach Vaters Tod hierherziehe.«
    Nele sah hoch zu den Schimmelflecken an der Decke. Sie ließ den Blick über die zwei Betten wandern, die Anrichte, das Gestell mit dem Gaskocher, die Töpfe. »Wir sollten lüften«, sagte sie.
    »Sieh es doch endlich ein, du bist keine Tänzerin. Und überhaupt dieser sittenlose Amüsierbetrieb. Was hast du da zu suchen? Bewirb dich lieber für etwas Ordentliches, als Waschfrau oder als Dienstmädchen. Du gehst gleich morgen zur Gesindestellenvermittlung.«
    »Als Dienstmädchen darf ich dann Wasserhähne polieren für die reichen Leute, ja? Oder Kaminvorsätze aus Messing.«
    »So ist es.« Die Mutter spitzte die faltigen Lippen. »Das nennt man Arbeit. Du wunderst dich, dass dich keiner heiraten will? Du bist faul, Nele, und unzuverlässig obendrein.«
    Ihr schossen Tränen in die Augen. »Ich bin nicht faul, Mutter! Du weißt genau, dass ich meine Tänze bis zum Umfallen übe.«
    »Dann kannst du zur Abwechslung auch mal bis zum Umfallen in der Spulenwicklerei arbeiten.«
    »Bei der AEG gehe ich ein, Mutter. Da sitzt man in Reih und Glied und arbeitet im Akkord zwölf Stunden am Tag. Für so was bin ich nicht geschaffen, ich muss mich bewegen.«
    »Und wenn du dich mit Bücklingen an den Straßenrand stellst, gehst du da auch ein, weil du den Fischgestank nicht verkraftest? Du denkst, das Leben ist ein Zuckerschlecken! Nie bist du zufrieden, das war schon immer so.«
    Zornig wischte sich Nele eine Träne aus dem Gesicht. »Ich habe drei Jahre lang Zinnfiguren bemalt. Es ist nicht mehr so leicht wie in deiner Jugendzeit, Mutter!«
    »Denkst du, das weiß ich nicht? Ich sitze vom Morgengrauen bis in die Nacht an der Nähmaschine. Für das Dutzend Oberhemden bekomme ich gerade mal zwei Mark fünfzig. Ich schaffe auch nicht mehr als zehn Mark die Woche, und davon muss ich noch Nähgarn abziehen und das Fahrgeld zu den Bekleidungsläden. Es geht so nicht weiter, Nele. Die Miete zahle ich momentan ganz alleine. Ich sage ja nicht, dass ich mir auch mal Kaffee, Schokolade oder einen neuen Shawl leisten möchte. Ich sage nur, dass du fleißiger sein könntest.«
    »Mama, ich bin nicht –«
    »Faul ist, wer sich ausruht, bevor er erschöpft ist. Und du könntest mehr machen als dein Getanze.«
    »Mein Tanzen ist Kunst, davon verstehst du nichts. Du hockst hier im Sessel und liest Klatschzeitschriften.«
    »Ich muss nicht bleiben«, sagte die Mutter. »Ich kann morgen zurück nach Vohwinkel gehen, und dann kümmerst du dich allein um deine Wohnung und siehst einmal, in welche Lage du dich gebracht hast mit deinem Flittchenleben. Als ich in deinem Alter war, habe ich als Hausangestellte bei reichen Leuten gearbeitet, und geschlafen habe ich in einem Verschlag unter dem Treppenabsatz! Ich musste hart arbeiten, mein Leben lang.«
    Es stimmte, Mutter war eine fleißige Frau. Quer durch das Zimmer hingen Leinen mit Wäsche, die noch tropfte. Der Trog, in dem sie die Stücke mit der Bürste saubergerieben hatte, lehnte am Fensterbrett. Mutter flickte, Mutter putzte Gemüse, Mutter nähte.
    »Da ist etwas Wildes in mir drin«, sagte Nele. Sie schluckte ihre Tränen herunter. »Ich kann’s nicht bezähmen. Ich muss tanzen. Vielleicht haben mich die Männer verlassen, weil ich nicht liebenswert bin. Das wollte ich nicht, ich will ja liebenswert sein und fürsorglich. Aber ich bin nun einmal ein anderer Mensch als du, Mutter. Deswegen bin ich noch lange nicht böse. Ich habe diesen Traum vom Tanzen, und den kann ich nicht einfach aufgeben.«

5
    Die Nähmaschine stand am Fenster, wo das Licht am besten war. In der Morgendämmerung glänzten die goldenen Buchstaben auf dem Eisenrumpf wie ein Zauberspruch: SINGER. Nele legte nachdenklich eine Hand darauf. »Mach es gut, Mama.« Aus dem Versteck in der Tasse nahm sie Mutters Geld. Sie kritzelte auf die Rückseite der Gasabrechnung:
    Liebe Mama, der Dieb war ich. Bitte verkauf dafür mein Kleid. Und vergib mir, dass ich dich allein lasse. Wenn es möglich ist, komme ich eines Tages zurück.
    Nele
    Sie sah sich um.

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