Tanz unter Sternen
darüber nur ein winziges Stück Himmel ausschnitten.
Nele sah an einem alten Haus hinauf. Der Putz war fast vollständig von der Wand gefallen, die Ziegel fleckig. Seit Jahren floss Wasser durch die kaputte Regenrinne und sickerte an der Wand herunter.
Durch die Toreinfahrt gelangte sie in den Hinterhof. Vier Häuser teilten sich hier eine Handpumpe und einen Verschlag mit drei Toiletten. Neben den stinkenden Aborten standen überquellende Mülleimer.
Im Hinterhaus stieg Nele die knarzende alte Treppe hoch. Es roch wie in einem Keller. Hinter schäbigen Türen lebten ihre Nachbarn: ein Flickschuster mit acht Kindern, eine Lumpensammlerin, ein Altwarenhändler und seine Familie. Außerdem jüdische Einwanderer, Polen, die einen alleinstehenden Arbeiter als Schlafgänger beherbergten, weil sich die Familie sonst die Miete nicht leisten konnte. Um Platz für den zahlenden Mitbewohner zu schaffen, mussten die Kinder auf zusammengeschobenen Stühlen schlafen.
Sie, Nele, würde eine weitere Nacht das Schnaufen und Räuspern ihrer schwer atmenden Mutter hören, und sie würde ihren Fußschweiß riechen. Einmal einen eigenen Schlafraum zu haben, Ruhe und Sauberkeit! Eine Wohnung, in der keine Wanzen in den Fußbodenritzen nisteten!
Jede Woche spritzte sie Essigsäure in die Zapfenlöcher der Bettstellen, aber die Wanzen und ihre Brut überlebten. Die Nachbarn sagten, man müsse sämtliche Tapeten abreißen und die oberste Schicht Putz abkratzen und dann die Risse mit Gips verschmieren, und in die Fugen der Dielen müsse man kochende Lauge gießen. Wahrscheinlich waren sie anschließend immer noch da, die kleinen braunen Bettwanzen mit ihrem Stechrüssel und ihren Fühlern und ihren flinken Beinchen, die sich tagsüber in die Ritzen verkrochen, und nachts kamen sie heraus, krabbelten über den Boden und in die Betten, und wenn sie bei ihr Blut gesaugt hatten, juckte es eine Woche lang.
Sie schloss die Wohnungstür auf. Im Zimmer brannte noch Licht. War Mutter wach? Nele wollte ihr aus dem Weg gehen, um ihr nicht von ihrem Misserfolg erzählen zu müssen. Konnte sie sich nicht einfach schlafen legen, und sie redeten morgen?
Die Mutter erschien in der Zimmertür. Ihre weißen Haare waren noch ordentlich zum Knoten zusammengesteckt. »Du warst lange weg.«
»Ein netter Herr hat mich eingeladen.«
»Hast du getrunken?«
Nele schwieg.
Die Mutter räumte den Stuhl frei. »Setz dich und erzähl, wie es im Wintergarten war.«
Auf dem Tisch lag die Aprilausgabe der Zeitschrift Die Dame , das farbige Titelblatt zeigte eine modisch gekleidete Frau. Fünfunddreißig Pfennige kostete das Magazin, es war der einzige Luxus, den ihre Mutter sich leistete: Sie bezahlte Geld dafür, sich Kleidung anzusehen, die sie sich niemals würde kaufen können. Aus irgendeinem Grund las sie gern von der neuesten Mode aus Paris, hielt sich über das ereignisreiche Leben der Sängerinnen auf dem Laufenden. Sie betrachtete die Automobile der Stars und die Inneneinrichtung ihrer Häuser, Fotografien von Salons, Speisezimmern mit Blick zum Garten, Bädern mit Chaiselongue, Marmorwanne, Säulen und Spiegeln und Kamin.
»Es war grauenhaft«, antwortete Nele. »Das Publikum mochte meinen Tanz nicht.«
»Und nun?«
»Ich bin gefeuert.« Sie setzte sich.
»Dann such dir etwas Anständiges.« Mutter schlug die Zeitschrift auf und zeigte ihr die Heiratsannoncen. »Lies das mal. Wenn du Verkäuferin wärst oder Postangestellte oder Lehrerin, du könntest einen guten Mann finden, siehst du, hier ist ein Kolonialbeamter oder da, ein Offizier.«
Nele las vor: »Häusliche, anschmiegsame Frau gesucht.« Sie sah hoch. »Das bin ich nicht, das weißt du genau, Mutter.«
»Du gibst dir auch kein bisschen Mühe, den Herren zu gefallen.« Die Mutter blätterte um. »Schau, hier gibt es ein Preisrätsel, da kann man sechshundert Mark gewinnen. Ich habe natürlich mitgemacht. Aber ich gewinne ja nie. Stattdessen haben wir Schulden bis zum Hals. Überall sind wir mit den Abzahlungen im Rückstand, und du musstest trotzdem noch dieses Kleid kaufen.«
»Das macht keinen Unterschied mehr«, sagte Nele. »Wir konnten vorher die Schulden nicht bezahlen, und wir können sie jetzt nicht bezahlen.«
»Du redest, als wäre es dir egal. Ich habe schon wieder diese Augenentzündung, bei dem Staub und Schmutz hier heilt das nie richtig aus. Das ist doch kein Leben!«
Ihre Mutter hatte recht, diese Wohnung war eine Zumutung. Aus dem Küchenabfluss stank Fäule herauf,
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