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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
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Gestern Abend war ihr die Wohnung hässlich erschienen; jetzt, da sie drauf und dran war fortzugehen, kam ihr das Zimmer gemütlich vor. Auf dem Gaskocher stand der alte Topf, in dem die Mutter aus geraspelten Kartoffeln Stärke kochte, da lag das Sieb, mit dem sie die Stärke herausfilterte zum Steifen der Tischdecken, Bettwäsche und Blusenrüschen. Unter Mutters Bett lugte der Nachttopf hervor. Sie hasste es, in der Dunkelheit in den Hof hinunterzumüssen zu den Gemeinschaftstoiletten. Die zerschlissene blaue Schürze dort am Haken hatte Mutter schon getragen, als Nele noch ein Kind gewesen war. Würde sie weinen, wenn sie sah, dass Neles Sachen fehlten, und den Zettel las?
    Ohne das Geld konnte sie die Gasrechnung nicht bezahlen. Man würde ihr morgen oder übermorgen das Gas abstellen, was bedeutete, dass der Kocher und das Licht nicht funktionier ten. Mutter würde auf den Pferdewagen der Deutsch-Amerikanischen Petroleumgesellschaft warten müssen, um dort etwas Brennstoff zu kaufen. Abends würde sie beim schwachen Schein der Petroleumlampe nähen und ihre eigensinnige Tochter verfluchen.
    Nele steckte sich das Geld in die Jackentasche. Sie schlang sich ein Wolltuch um den Kopf und griff den Stoffbeutel, er war leicht, Strümpfe, Schlüpfer, ein Kanten Brot, ein Stück Seife, das wog nicht viel. Besser, sie beeilte sich. Mutter war nur unterwegs, ihre Hemden zu verkaufen, sie würde bald wieder hier sein.
    Am Kolonialwarenladen in der Ritterstraße eilte Nele mit abgewandtem Gesicht vorbei. Die Inhaberin durfte sie nicht sehen, sonst käme sie nach draußen und fragte, wann sie vorhabe, ihre Schulden zu begleichen.
    Um Geld zu sparen, verzichtete sie auf die Straßenbahn. Sie blieb erst in der Kochstraße stehen, vor einer Konditorei. Im Schaufenster waren Pickelhauben aus Mokkaschokolade ausgestellt, eingefasst mit Marzipan, und eine Torte aus mehreren Etagen, auf der Spitze ein Baby aus Zucker. Es gab eine Nougatburg und feinen Baumkuchen. Ihr Magen knurrte. Einen Moment lang stellte sie sich vor, wie es wäre, das gestohlene Geld für Schokolade und Kuchen auszugeben und sich an den Köstlichkeiten satt zu essen.
    Sie riss sich vom Anblick des Schaufensters los.
    Je näher sie dem Potsdamer Bahnhof kam, desto dichter folgte Elektrische auf Elektrische, vierundzwanzig verschiedene Straßenbahnlinien fuhren zum Potsdamer Platz. Eine Elektrische klingelte schrill, weil Fußgänger nicht aus dem Weg sprangen. Zeitungsjungen riefen Neuigkeiten aus. Radfahrer schnitten Passanten den Weg ab und wurden beschimpft. Auf der Straße schob sich eine Kolonne von Fuhrwerken voran, dazwischen schwarze Automobile, sie waren gefangen hinter unzeitgemäß langsamen Pferdewagen.
    Ein Polizist zückte seine Pfeife und drohte mit hellem Pfiff einem Kraftdroschkenfahrer, der auf der Kreuzung zu überholen versuchte. »Kartoffeln und Heringe« stand an einen Gemüseladen angeschrieben. Nele dachte: Bald sehe ich keine deutschen Wörter mehr über den Schaufenstern.
    »Naturschwamm, dreißig Pfennige!«, rief ein Mann. Er schaute Nele an. »Die Dame?«
    »Nein, danke«, sagte sie.
    Der Mann trug einen dunklen Anzug mit Melone. Über seiner Schulter lag ein Stock, daran hingen Dutzende Schwämme, als käme er gerade vom Meer, wo er sie erbeutet hatte, breit gedrückte Flauschbälle, dick wie zusammengerollte Igel. Er fragte die näch ste Passantin.
    Von einer Straßenbaustelle zog stechender Geruch herüber, die Arbeiter schmolzen Pech und Asphalt. Nele ging unter Säulenbögen hindurch in den Bahnhof und trat an den Fahrkartenschalter. »Nach Köln«, sagte sie.
    Die Frau im Schalter fragte: »Einfach oder mit Rückfahrt?«
    »Einfach.« Das Wort brannte in ihrem Mund.
    »Fahren Sie erster oder zweiter Klasse?«
    Nele stutzte. Sie wagte nicht zu sagen, dass sie bisher immer vierter Klasse gefahren war. »Gibt es keine dritte Klasse?«
    »Nicht im Zug nach Köln. Das ist ein Schnellzug.«
    »In Richtung Köln bieten Sie keine dritte Klasse an?«
    Die Frau verneinte.
    »Also nehme ich die zweite.«
    »Möchten Sie ein Raucherabteil oder ein Nichtraucherabteil?«
    »Nichtraucher.«
    »Fenster oder Gang?«
    »Das Fenster wäre gut.«
    Die Frau hielt ihr einen Grundrissplan des Wagens hin. »Die Plätze sind durchnummeriert. Sie sitzen hier. Ich schreibe es ihnen auf. Zum Fahrpreis kommen zwei Mark Schnellzugzuschlag dazu.«
    Nele erhielt ein Kärtchen aus grünem Karton. Berlin – Köln, zweiter Klasse war darauf gedruckt, an den

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