Tapas zum Abendbrot
Wochen nicht gesehen. »Bist du schon aufgeregt?«
»Stell dir vor«, sagt Marike und strahlt über das ganze Gesicht. »Seit gerade eben ist alles gut. Ich steh immer noch voll unter Adrenalin. Roberto hat angerufen: Die Fluglotsen werden nicht streiken! Ist das nicht groÃartig?«
»Gott sei Dank«, rufe ich und falle meiner Freundin gleich noch einmal um den Hals. »Sind Juan und Victoria denn schon angekommen?«
Marike nickt und wuchtet eine Kiste Wein auf den Tisch. »Hier, schau mal: Nur das Beste für die Gäste! Roberto checkt seine Eltern gerade im Hotel ein. Heute Abend gehen wir dann alle zusammen essen. Kannst auch mitkommen, wenn du magst!«
»Probiert doch schon einmal eine Flasche WeiÃwein und stoÃt auf die spanischen Fluglotsen an«, ruft Marikes Mutter aus dem Flur. »Noch ist der Wein kalt.«
»Gute Idee!«, sagt Paul und kramt gleich einen Korkenzieher aus der Küchenschublade. Anna holt ein paar Gläser aus dem Schrank und stellt sie vor uns auf den Tisch. Dann stoÃen wir an.
»Auf die Fluglotsen«, sagt Paul.
»Genau, und auf die amore!«, füge ich hinzu, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das nun Spanisch oder Italienisch ist. Oder beides? Egal, denke ich und blicke zu Paul hinüber. »Jetzt musst du aber unbedingt von eurer Reise erzählen.«
Paul schwenkt den Wein ein wenig in seinem Glas. »Ach«, sagt er, »das ist wirklich eine lange Geschichte.«
Und dann erzählt er von einer Stadt im Norden Chinas, von Emilys Mama, die verrückt danach ist, teure Taschen zu kaufen, von den Teezeremonien mit winzigen Tassen und von seinem Schwiegervater in spe, der früher als Gefängnisdirektor gearbeitet hat. Und genau das macht Pauls Liebe zu Emily so kompliziert. Denn als Beamtenfamilie wünschen sich Emilys Eltern für ihr einziges Kind einen hohen Beamten, einen Chefarzt, einen erfolgreichen Unternehmer oder einen Anwalt. Mindestens. Was ein Sounddesigner ist, das wissen sie nicht. Klar ist aber â so vermutet es zumindest Emily â dass Sounddesigner nicht auf der Liste familienkompatibler Schwiegersohnberufe steht.
Daher existierte Paul sieben Jahre lang ausschlieÃlich in Emilys niederländischem Leben. Sobald sie mit ihren Eltern in China sprach, wurde er ausgeblendet. Doch irgendwann musste sie einsehen, dass sie sich in China nicht ewig als Single verkaufen konnte. SchlieÃlich wollten Paul und sie ja irgendwann auch heiraten oder Kinder bekommen. Da er aber nun einmal weder Chefarzt noch Unternehmer ist, musste seine Präsentation bei ihren Eltern wie ein Staatsbesuch geplant werden. Bei der Wahl der Strategie für die Organisation des familiären Gipfeltreffens entschied sich Emily für die Salamitaktik: Scheibchen für Scheibchen, dachte sie, ist die Wahrheit besser zu verdauen als am Stück.
Allein die Ankündigung von Pauls Besuch in China bedurfte daher monatelanger Vorbereitung. »Mama«, sagte sie eines Tages am Telefon ganz unverfänglich, »ich wollte dir noch erzählen, dass es da einen Mann in meinem Leben gibt.« Dass sie mit diesem Mann schon seit fünf Jahren zusammenwohnte, brauchte ja erst einmal niemand zu wissen.
Das zweite Häppchen Wahrheit servierte Emily ihren Eltern dann ein paar Wochen später: Sie kreiste so lange um das Thema herum, bis die Eltern irgendwann heraushören konnten, dass ihre Tochter mit diesem deutschen Mann nun fest zusammen war. Paul konnte es damals gar nicht glauben, dass seine Freundin ihren Eltern endlich die Wahrheit sagte. Dass sie wie in einem Fortsetzungsroman bei jedem neuen Telefonat mit einem weiteren Stückchen Wahrheit herausrückte. Er hatte sie oft gedrängt, das Versteckspiel endlich aufzugeben, aber jahrelang war ihr das zu heikel gewesen. Und nun sagte sie, dass die ganz langsame Vorbereitung ihrer Eltern die einzige Methode sei, die funktionieren könnte.
Der absolute Höhepunkt in Emilys Drehbuch folgte dann einige Wochen später: Sie verkündete ihren Eltern am Telefon, dass sie, wenn sie das nächste Mal nach China käme, Paul mitbringen würde. Für sie war das vermutlich eines der schwierigsten Telefonate ihres Lebens. SchlieÃlich bedeutet es in China nicht viel weniger als die Ankündigung einer Hochzeit, wenn der Schwiegersohn die Eltern seiner Freundin kennenlernt.
»Und wie haben ihre Eltern dann auf dich reagiert?«, frage ich Paul und
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