Taquanta: Zwischen Traum und Wirklichkeit (German Edition)
keine Risiken eingehen.
Das Essen endete früh, da am nächsten Morgen alle fit sein mussten, es sollte früh losgehen und die Männer würden ihre Kräfte brauchen.
»Wollen wir noch einen Abendspaziergang machen?«, fragte mich Giardio.
Wir wünschten allen eine gute Nacht und gingen in den Garten. Überall schwirrten Glühwürmchen herum, und die Nachtluft war kühl und erfrischend. Eine Weile verbrachten wir schweigend, denn ich fühlte, dass Giardio etwas sagen wollte, jedoch nicht wusste, wie er anfangen sollte.
»Das Armband ist das Letzte, was mein Vater mir schenkte. Der hellblaue Stein steht für meine Mutter, eine Elfe, der andere für meinen Vater, ein Mensch.«
Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, welches Armband er meinte, und starrte schweigend auf sein Handgelenk. Die Steine waren von mir weggedreht, aber das Leder war gut sichtbar. In seinen Augen war wieder der seltsame Ausdruck, den er immer bekam, wenn es um seinen Vater ging. Und plötzlich wusste ich, woher ich ihn kannte. Es war derselbe Ausdruck, den mein Vater immer am Todestag meiner Mutter oder an ihrem Geburtstag hatte: Ein Ausdruck tiefster Trauer. Ich konnte in Giardios Augen das sehen, was andere in meinen sahen, nach Mamas Tod. Was ich selbst sah, wenn ich in den Spiegel blickte. Mama hatte sich vor vier Jahren das Leben genommen. Bei der Geburt ihres zweiten Kindes – vier Monate vor ihrem eigenen Tod – war dieses gestorben. Anschliessend fiel meine Mutter in eine tiefe Depression. Sie war noch nie ein starker Charakter gewesen, und nur das Malen hatte sie so lange am Leben gehalten. Die Gemälde der letzten vier Monate ihres Lebens waren düster und melancholisch. Dann wurde ich von der Sekretärin meines Vaters in der Schule abgeholt und nach Hause gebracht, wo ich meinen Vater weinend vorfand. Danach war ich monatelang mit genau derselben Trauer in den Augen durchs Leben gegangen. Die Art von Trauer, wenn man jemanden, der einem sehr nahe steht, verliert. Eine Mutter. Einen Vater.
»Ich habe gelogen.« Seine Stimme schreckte mich aus meinen Gedanken, doch er merkte es nicht einmal. Seine Augen verrieten, dass er weit weg war.
»Ich habe dir erzählt, ich hätte Calvin mit einem Messer vertrieben. Das stimmt nicht.«
»Ich habe es geahnt«,sagte ich leise.
»Wieso?«
»Du hast gesagt, du hättest einfach das Messer genommen und es ihm in den Rücken gerammt, doch du hast nie Vampuna erwähnt. Wie hast du ihn dann vertrieben?«
Der Schatten eines Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Ich habe ihm befohlen, dich in Ruhe zu lassen, und gesagt, dass er mir wenigstens das schuldig ist.« Die letzten Worte spuckte er förmlich aus. Nun verstand ich gar nichts mehr. Wieso sollte er ihm etwas befehlen? Steckte Giardio womöglich mit Calvin unter einer Decke? Wieder entschloss ich mich, nichts zu sagen oder zu fragen, obwohl ich äusserst neugierig war. Und besorgt. Vorsichtig nahm ich ihn in den Arm. Er sah so traurig aus und gleichzeitig so wütend. Eine Mischung, die ihn furchteinflössend und gleichzeitig verletzlich aussehen liess.
»Du fragst dich jetzt bestimmt, wie das möglich ist, dass er mir etwas schuldig war, und ich das einfordern konnte.« Er streichelte meinen Arm, und ich sah zu ihm auf.
»Die einfachste Erklärung wäre wohl die«, er holte tief Luft, und als ich ihm jetzt in die Augen sah, bekam ich Angst. Aus ihnen sprach nichts als Härte und Wut. Keinen Funken Trauer konnte ich entdecken. Er sah mir tief in die Augen, schloss seine eigenen für einen Moment und als er sie wieder öffnete, sagte er etwas, das ich nie erwartet hätte.
»Calvin ist mein Vater.«
Calvin ist sein Vater.
Calvin ist sein Vater.
Calvin ist sein Vater.
Calvin ist sein Vater.
Calvin ist sein Vater.
Dieser Satz rotierte in meinem Kopf. Er drehte sich mal auf diese, mal auf die andere Seite. Doch der Inhalt blieb unverändert. Wenn das stimmte, dann ging Giardio in den Kampf, um sich an seinem Vater zu rächen. Wegen Dingen, die geschehen waren, bevor ich nach Taquanta kam, vielleicht auch wegen mir. Calvin ist sein Vater. Und auf einmal machte alles Sinn. Jedes Mal, wenn jemand Calvin erwähnte, huschte ein Ausdruck des Hasses über Giardios Gesicht, oder seine Hände verkrampften sich, sein Lächeln verschwand. Ich hatte all diese Dinge als Feindseligkeit den Vampiren gegenüber interpretiert, aber in Wahrheit war es Feindseligkeit gegenüber seinem eigenen Vater. Giardio beobachtete mich genau. Ich wollte nicht,
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