Taquanta: Zwischen Traum und Wirklichkeit (German Edition)
Höhlen. Kein Funken Leben war mehr darin. Sie waren nicht einmal ausdruckslos. Sie waren einfach nicht.
»Du meine Güte«, hauchte ich. Erinnerungen überfluteten mich. Wie ich seine Augen angestarrt hatte. Seine tiefgründigen, kobaltblauen Augen. Ich hatte immer geglaubt, ich könnte direkt in seine Seele sehen. Doch jetzt war das unmöglich, denn ich besass sie. Tränen flossen in Strömen. Ich kniff die Augen zu. Vielleicht – wenn ich es mir ganz fest wünsche – würde er, sobald ich die Augen wieder öffnete, wieder so vor mir stehen, wie ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mit schillernden Flügeln, einergesunden Hautfarbe, einer perfekten Statur, mit dem Lächeln im Gesicht, dem ich jedes Mal aufs Neue verfiel, und mit zu den Flügel passenden kobaltblauen, lebendigen Augen. Ich konzentrierte mich ganz fest. Der Herzschlag des Baumes schien wie eine Meditation. Mein Inneres kribbelte und mir wurde warm ums Herz.
Ich verspürte solche Sehnsucht nach dem Giardio meiner Erinnerungen. Nicht etwa, weil ich ihm mein Leben schuldete oder weil er ein Freund war. Ich war überzeugt gewesen, ich hätte in dieser Welt meinen Platz gefunden, doch alles hatte sich aufgelöst und sich als falsch herausgestellt, als ich von Giardios Schicksal erfahren hatte. Ich gehörte nicht in diese Welt.
Das
war nicht mein Platz. Nein, nicht nach Taquanta, sondern an Giardios Seite gehörte ich.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich, und war überwältigt von der Wahrheit meiner Worte. Ja, wir kannten uns noch nicht lange, und ja, wir waren noch nicht einmal achtzehn. Aber wir waren weder in Wien noch in Europa, wahrscheinlich nicht einmal in der Milchstrasse. Hier galten andere Regeln. Und ich liebte ihn.
Als ich die Augen wieder aufschlug, hatte sich alles verändert und auch nichts. Ich stand immer noch einem leblosen Wesen gegenüber; einem Abbild von Giardio. Seine Augen waren kein bisschen lebendiger geworden. Auch das Pochen des Herzbaumes war noch da.
Aber es war egal. Es spielte keine Rolle, wie Giardio aussah. Es spielte keine Rolle, dass ich vielleicht nie wieder das Funkeln in seinen Augen sehen würde. Es war unwichtig. Ich war hier und das zählte. Viel mehr gab es nicht zu tun, bis auf eines.
Vorsichtig legte ich meine Hände um sein Gesicht. Für einen kurzen Augenblick betrachtete ich ihn einfach,dann schloss ich langsam die Augen und presste meine Lippen gegen seine. Es war wie einen Stein zu küssen, denn er reagierte nicht. Und doch war es tausendmal besser, denn es war
mein
Stein. Ich drückte meinen Mund so fest auf den seinen, dass ich annahm, er würde gleich zerspringen. Doch nichts dergleichen geschah. Zumindest nichts, das ich sah. Denn hätte ich die Augen geöffnet, dann wäre mir möglicherweise aufgefallen, wie ein Herz am Baum, das Schönste, anfing zu leuchten. Es begann stärker zu pochen, bis der Herzschlag von ihm, und nicht mehr vom Baum ausging. Und mit jedem Zusammenziehen und Ausdehnen der Muskeln veränderte sich etwas. Mit jedem Herzschlag wurde ein bisschen mehr Leben in Giardio gehaucht. Seine Flügel nahmen wieder Farbe und Glanz an, seine Haut verlor die Risse und wurde wieder zu echtem Fleisch. Seine Körpertemperatur kehrte zurück und seine Augen, seine wundervollen Augen, wurden wieder zum Leben erweckt. Schliesslich nahm auch das Herz wieder seinen gewohnten Platz in Giardios Körper ein. All das jedoch fiel mir nicht auf, ich spürte nur, wie sich zwei Arme um mich schlangen und wie mein Kuss erwidert wurde. Erstaunt schnappte ich nach Luft.
»Giardio?«
Er grinste.
Wir sassen auf einer kleinen Lichtung im Wald. Nur Giardio und ich. Unsere Pferde grasten friedlich und ignorierten uns vollkommen. Meine Finger waren mit Giardios verschlungen, während wir uns die Sonne ins Gesicht scheinen liessen.
Nach dem Kuss beim Herzensbaum hatte sich alles – wie in einem der kitschigen Disney-Filme, die ich als kleines Kind so sehr geliebt hatte – zum Guten gewandelt. Wir hatten uns noch einmal geküsst, und das war noch viel besser gewesen, als den Stein zu küssen, und dann hatten wir plötzlich am Waldrand, auf dem Hügel vor dem Dorf gestanden. Wir waren beide sehr überrascht, doch wir hatten es nicht hinterfragt, sondern waren einfach glücklich, wieder zusammen zu sein, auf dem Bonsani, der auf wundersame Weise auch dort gestanden hatte, zurück zum Palast geritten. Dort waren wir mit viel Tamtam empfangen worden. Jeder hatte jeden umarmt, und kurz darauf war auch die
Weitere Kostenlose Bücher