Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
letzten Monden häuslich eingerichtet – wie es ihre Art war, am höchstmöglichen Punkt des Raumes –, und wenn sie nicht gerade des Nachts durch Airianis streifte oder sich in Tareans Nähe aufhielt, verbrachte sie Stunden dort oben im Dunkeln, mal schlafend, mal leise vor sich hin summend. Solange sie dergestalt mit sich selbst beschäftigt war, schien sie friedlich und zufrieden zu sein. Doch die plötzlichen Stimmungsschwankungen, die sich in den letzten Wochen zunehmend in ihr Verhalten eingeschlichen hatten, legten nahe, dass das Irrlicht alles andere als zufrieden war.
»He, Moosbeere«, rief der Junge seiner winzigen Gefährtin nach. »Es war nicht so gemeint.«
»Von mir schon«, bekam er als schnippische Antwort vom Schrank herab zu hören.
Tarean seufzte. Er hoffte, dass sich Moosbeeres Stimmung bessern würde, sobald sie erst einmal unterwegs nach Breganorien waren.
Der Junge wusch sich, kleidete sich an und zog dann los, um sich im großen Speisesaal ein Frühstück einzuverleiben. Auch überall auf den Gängen und in den Sälen der Königsburg machten sich die anstehenden Feierlichkeiten bemerkbar. Dienerinnen huschten mit Putzeimern umher, Knechte trugen Tische und Bänke nach draußen – denn nicht nur das Volk, auch der Adel beging die Sturmweihe unter freiem Himmel –, und aus der Küche drang schon jetzt der verführerische Geruch von Gebratenem und Backwerk, das zum Königsbankett am Abend aufgetragen werden würde.
Den Rest des Vormittags verbrachte Tarean damit, einigermaßen ziellos durch die ihm zugänglichen Teile der Himmelszitadelle zu schlendern und mal hier, mal dort bei den Vorbereitungen zur Sturmweihe mit Hand anzulegen. Iegi war nirgends zu sehen, ebenso wenig sein Vater, König Ieverin. Dafür lief ihm Liftrai über den Weg, der ihm versicherte, dass Ro’ik, Tareans Greif, bestens versorgt sei und das Rennen heute Nachmittag mit regelrechter Ungeduld erwarte.
»Ich wünschte, ich würde Ro’iks Vorfreude teilen«, sagte Tarean. »Aber das flaue Gefühl in der Magengegend stört dabei ein wenig.«
Liftrai lachte. »Es schadet nichts, wenn du ein wenig Respekt vor dem Rennen hast. Dann neigst du wenigstens nicht zu Tollkühnheiten wie unser Prinz, der sich und sein Tier jedes Jahr aufs Neue durch halsbrecherische Flugmanöver in Gefahr bringt, nur um den Sieg davonzutragen.«
»Und? War das Glück ihm hold?«, erkundigte sich Tarean.
»Bisher ja. Aber auch wenn die Lichtgefiederten mit Wohlgefallen auf die Beherzten herabschauen, wird irgendwann der Tag kommen, an dem unser Prinz einmal zu oft ihre Gunst in Anspruch genommen hat.« Der Greifenmeister hob mahnend die Hand. »Also versuche nicht, mit Iegi zu wetteifern, Tarean. Gerade jemand, dem die Fähigkeit fehlt, sich notfalls aus eigener Kraft in die Lüfte zu erheben, könnte sich mit derartigem Leichtsinn das Genick brechen. Halte dich stattdessen an Ro’ik. Der weiß schon, was er tut. Er läuft die Strecke bereits im dritten Jahr.«
»Ich versuche, mich daran zu erinnern«, gab der Junge zurück.
»Lauf, Ro’ik! Schneller!«
Tarean lehnte sich nach vorne und klammerte sich am Nackengefieder des Greifen fest, während er ihn gleichzeitig mit lautem Rufen anspornte.
Ro’ik antwortete, indem er den Kopf hob und einen gellenden Jagdschrei ausstieß. Das Vogelpferd ließ die kräftigen Muskeln spielen und machte einen Satz vorwärts. Mit weit ausgreifenden Bewegungen galoppierte es das schmale, gewundene Tal entlang, das sich in gemächlicher Steigung bis hinauf zur Schneespitze zog, dem Berg, der ihre erste Wegmarke darstellte. Dabei berührten Ro’iks Hufe nicht wirklich den Erdboden. Vielmehr sanken sie in eine dunstig wirkende, aber das Gewicht des Greifen dennoch tragende Masse aus flockigem Weiß ein, die das Tier auf wundersame Weise unter sich entstehen lassen konnte und die es ihm erlaubte, selbst hoch am Himmel dahinzueilen, als befände sich fester Boden unter seinen Beinen.
Im Moment allerdings folgten sie in Bodennähe dem Verlauf des Tals – wie es für diesen Teil des Vier-Gipfel-Rennens vorgeschrieben war. Und um sie herum preschte das Feld der Herausforderer dahin, eine knappe Hundertschaft überwiegend junger Greifenreiter, die in wilder Jagd durch die Wolkenberge fegte.
»Los, Ro’ik! Zeig ihnen, was du kannst!«
Er hatte Liftrai versprochen, vorsichtig zu sein, sich nicht von Iegi oder einem anderen Reiter zu Leichtsinnigkeiten verführen zu lassen. Doch es hatte weder des
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