Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
entdeckte. Ro’ik gab ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass auch er diese Gelegenheit, im Feld vorzurücken, erkannt hatte. Der Greif winkelte die Flügel leicht an und ließ sich in Richtung des Bodens der Klamm tragen. Es war ein waghalsiges Manöver, denn je näher die im spitzen Winkel zusammenlaufenden Wände rückten, desto leichter mochte es geschehen, dass Tier und Reiter in einem Augenblick der Unachtsamkeit gegen den Fels prallten.
Doch Ro’ik schien ebenso vom Jagdfieber gepackt wie Tarean, der zu spüren glaubte, wie ihm das Blut durch die Adern rauschte, während seine Sinne geradezu unnatürlich geschärft schienen.
»Schneller! Gleich haben wir sie!«
Kaum fünf Schritt über dem zerklüfteten Grund der Klamm schossen sie dahin. Stück für Stück glitten sie unter den zwei Greifenreitern hindurch, die ihnen vorausflogen. Als ihre Kontrahenten den tolldreisten Überholversuch bemerkten, stießen sie überraschte Pfiffe aus. Doch sie vermochten Tarean und Ro’ik nicht aufzuhalten.
Ein schmaler Spalt hellen Tageslichts vor ihnen wies auf das Ende der Sturzklamm hin. Er schien ihnen regelrecht entgegenzuspringen, während die letzten hundert Schritt wie im Fluge dahinschmolzen. Für einen Moment wurde Tarean von der furchtbaren Vorstellung übermannt, Ro’ik könne sich verrechnet haben und ihren Fall zu spät abbremsen.
»Hochziehen!«, schrie der Junge.
Doch der Greif hatte bereits die Flügel ausgebreitet und ließ sich in einer weiten Kurve aus der Klamm heraustragen, die etwa fünfzig Schritt oberhalb eines breiten Tals am Fuße der Schneespitze endete. Bevor sie auch nur in Bodennähe kamen, ließ Ro’ik eine Wolkenbank unter sich entstehen und begann erneut zu galoppieren, ein gleitender Wechsel aus dem Sinkflug in das Hinabpreschen eines flockig weißen Abhangs. Für jeden Beobachter musste das Schauspiel atemberaubend sein.
Vor ihnen erstreckten sich die Tausend Zinnen, ein Landstrich, der sich durch eine Laune der Natur – manche munkelten auch: der Alten Macht – vor undenkbaren Zeiten in ein wahres Labyrinth aus steil zum Himmel aufragenden Felsnadeln verwandelt hatte. Einige waren kaum dicker als Tareans Oberarm und weniger als zwei Schritt hoch, andere hatten am Boden einen Durchmesser von sicher drei Manneslängen und schraubten sich wie fremdartig anmutende Turmbauten in die kühle Gebirgsluft. Erschwerend kam hinzu, dass die Felszinnen keineswegs kerzengerade emporragten, sondern in mitunter erschreckender Schräglage aus dem Boden wuchsen und dabei mal abenteuerlich unregelmäßige Torbögen bildeten, mal als plötzliche Hindernisse den Weg versperrten.
Der Rennverlauf folgte einem vergleichsweise sicheren Pfad durch das Felsengewirr, der allerdings den Nachteil hatte, eine weite Kurve gen Norden zu beschreiben, bevor er zurück in Richtung der zweiten Wegmarke am Weißhorn schwenkte. Natürlich gab es andere Wege durch die Tausend Zinnen, riskante Abkürzungen, die durch Felder führten, in denen die Felsnadeln dicht an dicht wuchsen. Es erforderte herausragendes Geschick, um hier zu bestehen, insbesondere, wenn man in eine wilde Verfolgungsjagd verwickelt war!
Tarean und Ro’ik hatten sich dank ihres kühnen Fluges durch die Sturzklamm mittlerweile an die Spitze des Feldes vorgekämpft. Kopf an Kopf mit fünf weiteren Greifenreitern, darunter Iegi und Raisil, preschten sie dahin. Der Taijirinprinz wandte sich seinem Freund zu. »Da bist du ja«, rief Iegi mit wildem Grinsen. »Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst!« Und an Ro’ik gewandt, fügte er hinzu: »Ich hoffe, er hat dich nicht zu sehr aufgehalten.«
»He!«, protestierte Tarean empört. »Nicht jeder von uns wurde auf dem Rücken eines Greifen geboren.«
»Nicht jeder von uns sollte an diesem Rennen teilnehmen«, mischte sich ein weiterer Vogelmensch zu seiner Rechten ein.
Tareans Kopf zuckte herum, und seine Miene verfinsterte sich. »Shariik. Du bist auch hier.«
»Was dachtest du denn, Flachländer?«, gab der andere zurück.
In der Aufregung der Vorbereitungen des Vier-Gipfel-Rennens hatte Tarean tatsächlich nicht mitbekommen, dass Shariik unter den Startenden gewesen war. Doch verwundern konnte es ihn nicht. Wenn jemand noch mehr Ansporn hatte, an dem Rennen teilzunehmen, als Raisil, dann war es wohl Shariik.
Denn Shariik war der Sohn von Shiraik, dem einstigen Himmelsmarschall von Airianis, der durch seine Weigerung, am Großen Ritt der Taijirin teilzunehmen, seine Gunst bei König
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