Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Taijirinprinzen noch eines anderen der Greifenreiter bedurft, um Tarean bereits kurz nach der Startfanfare alle guten Vorsätze fahren zu lassen. Die urplötzlich unter lautem Rufen und Johlen entfesselte Schar hatte ihn schlichtweg mitgerissen. Und jetzt versetzten das Gefühl des pfeilschnellen Dahinfliegens, das kraftvolle Muskelspiel von Ro’iks mächtigem Körper zwischen seinen Beinen und das Pfeifen des eisigen Windes um seine Nase den Jungen in einen atemlosen Begeisterungstaumel, der nur eine Richtung kannte: nach vorne!
»Ja! Gut so!«
In halsbrecherischem Tempo donnerten sie dahin. Links und rechts von ihnen huschten niedrige Sträucher, einzelne Nadelbäume und große Felsbrocken vorbei, die den Wegesrand säumten. Und dahinter erhoben sich, majestätisch und mehr als tausend Schritt hoch, die kahlen Steilwände der zwei Bergketten, die das Tal überragten. Auf ihren Gipfeln glitzerte der Schnee in der Nachmittagssonne.
Dann traten die Berge unvermittelt zurück, und die Greifenreiter galoppierten über eine grasbewachsene Hochebene. Das Feld fächerte sich auf, als diejenigen, die der Taleingang zu Beginn des Rennens ans hintere Ende gezwungen hatte, versuchten, sich nach vorne zu kämpfen. Tarean selbst befand sich im vorderen Drittel, denn Ro’ik hatte einen beachtlichen Start hingelegt. In der Kraft und Eleganz seiner Bewegungen spürte man deutlich die königliche Aufzucht, die er genossen hatte.
Einige Manneslängen vor sich sah Tarean Iegi, der mit angelegten Flügeln auf dem Rücken seines eigenen Tieres kauerte, eines prachtvollen Greifen mit silbergrauem Leibgefieder, das in imposante weiße Schwingen auslief. Vom ersten Moment an hatte er das Feld angeführt, jetzt allerdings lieferte er sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit zwei weiteren Greifenreitern.
Einen der beiden kannte Tarean. Es war Raisil, die Nistschwester Iegis – in menschlichen Begriffen wären beide wohl Cousin und Cousine gewesen, aber so ganz hatte Tarean die Verwandtschaftsverhältnisse der ihren Nachwuchs in Nistgemeinschaften aufziehenden Vogelmenschen noch nicht durchblickt.
Zur Zeit der Schlacht um At Arthanoc jedenfalls hatte ein Fieber Raisil ans Bettlager gefesselt, darum hatte Tarean sie erst kennengelernt, als er mit dem Heer der Greifenreiter nach Airianis gekommen war. Die in diesem Frühjahr fünfzehn Schneeschmelzen zählende Taijirin schien kaum weniger abenteuerlustig als ihr Nistbruder, und die Enttäuschung darüber, dass sie am Großen Ritt der Greifenreiter nicht hatte teilnehmen können, stand ihr noch Wochen später ins hübsche Gesicht geschrieben. Aus diesem Grund wunderte es Tarean kein bisschen, dass sie sich für das Vier-Gipfel-Rennen gemeldet hatte. Es war mehr als offensichtlich, dass sie sich selbst – und Iegi – damit ihren Wert beweisen wollte.
Tarean kniff die Augen zusammen. Nicht weit vor ihnen nahte die erste Herausforderung: eine fünfzig Schritt breite Klamm, welche die Hochebene von Nord nach Süd durchschnitt und im Gleitflug überquert werden musste. Der Junge beugte sich über Ro’iks bräunlich gefiederten Nacken. »Lauf«, spornte er den Greifen an.
Rasend schnell näherten sie sich dem gezackten Riss im Erdboden, den ein Beben vor ungezählten Jahrtausenden hatte entstehen lassen. Noch wenige Schritte trennten sie vom Abgrund, dann …
»Jetzt!«, rief Tarean und presste dem Greifen die Hacken seiner Stiefel in den Leib.
Durch das Tun des Jungen abgelenkt, stieß sich das Vogelpferd etwas zu früh vom Boden ab und benötigte vier kräftige Flügelschläge, um sich so weit in die Luft zu erheben, dass ihm ein Gleiten zum anderen Ende der Klamm möglich wurde – ein Fehler, den drei ihrer Konkurrenten geschickt zu nutzen wussten. Ro’ik schüttelte unwillig das weiße Vogelhaupt und machte Tarean dadurch deutlich, dass er es lieber sähe, wenn der unwissende Menschenknabe nicht versuchen würde, ihm zu zeigen, wie man das Vier-Gipfel-Rennen gewann.
Der Junge klopfte dem Tier beschwichtigend auf den Hals. »Es tut mir leid.«
Sie hatten die Wegmarke an der Schneespitze nun beinahe erreicht. Tarean konnte die farbigen Bänder schon erkennen, die an langen, in die Erde gerammten Stangen flatterten. Jeder Reiter musste drei dieser Bänder – von der Schneespitze, dem Weißhorn und dem Fuß der hohlen Klippe – mitbringen, um das Rennen ordnungsgemäß zu beenden. Um die Herausforderung für die Teilnehmer zu erhöhen, waren an jeder Wegmarke jeweils nur so viele Bänder
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