Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
und offenbar guter Laune. Die Männer berühren kurz (ihre) Frauen, einer küsst das Kind. Danach ziehen die Frauen (das Kind nehmen sie mit) in die nächsten beiden Büroräume und machen dort weiter. Die Putzmänner reinigen die Böden, leeren die Papierkörbe und die Aschenbecher. Es wird zwischen den Frauen und Männern eine Art Arbeitsteilung sichtbar. Die Frauen entstauben die Räume, die Männer sind für das Grobe zuständig. Immer mehr Menschen brauchen einen Nebenjob, um ihren Lebensstandard zu halten. Betroffen sind vor allem qualifizierte Arbeitnehmer, teilt das Statistische Landesamt in Wiesbaden mit. Den Erhebungen des Amtes zufolge stieg die Zahl der Erwerbstätigen mit Zweitjob seit 2005 um zirka ein Viertel. Damals hatten 100 000 Berufstätige (3,6 Prozent) einen Nebenjob, fünf Jahre später, 2010, waren es schon 126 000 (4,3 Prozent). Mit einem Anteil von 36 Prozent hatte mehr als jeder dritte Feierabend-Jobber eine hochqualifizierte Ausbildung.

Ich nehme an, die Hauptwache in ihrem heutigen Zustand wird von den meisten Stadtbewohnern, auch von ihren Planern, als Problemzone empfunden, obwohl sie niemand so nennt. Damals, in den siebziger Jahren, als sie entstand, wurde sie als Erleichterung aufgenommen, die sie – allerdings nur noch in einer Hinsicht – auch heute noch ist. Die Hauptwache kanalisiert Fußgängerströme, die gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen in den Stadtkern vordringen; sie entknäult die Ströme und gibt den Stadtgängern die angenehme Gewissheit, dass jeder einzelne unbehindert und fast ohne innere Beklemmungen dorthin gelangen kann, wo er hinwill. Gelungen ist diese Reibungslosigkeit durch die Erfindung der sogenannten B-Ebene. Sie ist ein unter die Erde verlagerter zweiter Raum, der die Fußgängerbewegungen auf der ersten Ebene auflockert und der gleichzeitig größer ist als diese. Es gibt zahlreiche Rolltreppen, die allesamt zur B-Ebene hinabführen und diese insgesamt vernetzen. Attraktiv war die B-Ebene, weil dort – sozusagen über Nacht – zahllose neue Geschäfte ihre Glastüren öffneten und besonders auf Jugendliche einen starken Sog ausübten. Es gab hier plötzlich alles, was Zwanzigjährige brauchen: Jeans, T-Shirts, Gürtel, Taschen, Schallplatten, Taschenbücher, Sommerschuhe, Pizzabäckereien, Eis-Salons, Bistros. Und etliche Bank-Filialen, wo das Geld abgehoben werden konnte, das für schnelle Anschaffungen nötig ist. Wer die konsumistischen Begierden gestillt hatte, ließ sich noch ein Stück weitertreiben ins Zentrum, weil dort junge Rockmusiker die Hits nachsangen, die alle kannten: das Neueste von den Rolling Stones, den Beatles, den Platters, von Leonhard Cohen und von wem auch immer. Heute erscheint an jedem Spätnachmittag eine Laienspielgruppe und drückt singend und Gitarre spielend ihr christliches Bedauern darüber aus, dass alles so ist, wie es ist. Manchmal bleibt jemand stehen und hört eine Weile zu, meistens nicht. Denn heute geht nur noch durch die B-Ebene, wer unbedingt muss, und das meint: wer schnell die S- oder die U-Bahn erreichen will. Was sollte man sich auch sonst anschauen oder anhören? Die meisten Geschäfte stehen inzwischen leer, die Innenseiten der Schaufenster sind mit Papier ausgeschlagen. Es ist nicht so, dass es das Problem der Öde nur in Frankfurt gibt. Auch anderswo sind aus den Fußgängerunterführungen schaurige Betonkanäle geworden, die den Hässlichkeitspreis kriegen würden, wenn es so etwas gäbe. Einen Ausweg aus dem Dilemma kann es nur geben, wenn die politischen Parteien im Magistrat den Notstand erkennen. Es wird nicht genügen, einfach noch mehr Untertunnelungen anzulegen. Wer die einfallslosen Fußgänger anklagt, liegt ganz schief. Nein, die Stadt braucht eine unverbrauchte stadtplanerische Idee, die etwas von dem zurückholt, was schon lange entschlafen ist: eine neue Aufreizung der alten Wege.

Nach der Lesung , wenn Teile des Publikums, die Veranstalter und der Autor bei einem Glas Wein beisammenstehen und plaudern, pirscht ein nicht mehr junger Mann seitlich an den Autor heran. Er hat auf diesen Moment gewartet, und jetzt spricht er hastig und verlegen sein Anliegen aus. Während er spricht, holt er aus seiner Kollegmappe ein Manuskript heraus, das er dem Autor übergeben möchte. Der Mann ist, obwohl es von ihm noch kein Buch gibt, selbst schon ein erfahrener Autor. Von dieser Erfahrung spricht er jetzt. Er weiß, dass die Lektorate der Verlage »hoffnungslos verstopft« sind und

Weitere Kostenlose Bücher