Taschenlehrbuch Biologie - Evolution - Oekologie
dadurch vermeiden, sich gegenseitig Verletzungen zuzufügen („ Taubenstrategie “). Früher wurde diese Beobachtung oft damit begründet, dass sich Individuen niemals in einer Weise verhalten, die andere Artgenossen schädigen, da ein solches Verhalten „schlecht für die Art“ als Ganzes sei. Inzwischen ist klar, dass diese Sichtweise falsch ist. Von der Selektion werden solche Verhaltensweisen begünstigt, die vorteilhaft für das einzelne Individuum ( Individuelle Selektion ) oder seine Verwandten ( Verwandtenselektion , s. u.) sind, unabhängig davon, welche Folgen sie für die Art haben. Die Frage, warum Konkurrenten trotzdem meist keinen Kampf auf Leben und Tod führen, lässt sich mit der sogenannten Spieltheorie erklären, einer Analysemethode aus den Wirtschaftswissenschaften. Die Strategie, bei Auseinandersetzungen zu versuchen den Gegner zu töten („ Falkenstrategie “), ist deshalb keine ESS, weil auch immer das Risiko besteht, in einer Population, die nur aus „Falken“ besteht, selbst verletzt oder getötet zu werden. Daher ist es besser, die Kräfte des Gegners in einem ritualisierten Kampf, unter Umständen auch mit einem Austausch von Drohgebärden, kennen zu lernen und im Fall der eigenen Unterlegenheit den Rückzug anzutreten („Taubenstrategie“). Allerdings ist auch dieses Verhalten keine ESS, da „Falken“ in einer Population von „Tauben“ zumindest so lange erfolgreich sein können, wie ihre Dichte einen gewissen Wert nicht übersteigt und die Chance, auf andere „Falken“ zu treffen, nicht zu groß wird.
Eines der schwierigsten Probleme der Evolutionsforschung besteht darin, zu erklären, wie sich Altruismus entwickeln konnte. Darunter versteht man Verhaltensweisen, die nicht dem handelnden Individuum dienen, sondern vorteilhaft für andere Individuen sind. Eine der extremsten Formen findet man bei eusozialen, staatenbildenden Tieren, zu denen Ameisen, Honigbienen, Echte Wespen, Termiten und als einziges Säugetier auch der Nacktmull gehören. Bei diesen Arten pflanzen sich nur eines oder wenige Weibchen in einem Staat fort, die Mehrzahl der Individuen („ Arbeiter “) beschränkt sich auf die Aufzucht der Nachkommen dieser „ Königinnen “. Eine der Erklärungen für die Evolution altruistischen Verhaltens ist Verwandtenselektion ( kin selection ). Sie wird durch hohen Verwandtschaftsgrad der beteiligten Individuen gefördert. So erreichen die Arbeiter bei eusozialen Tierarten die Weitergabe der eigenen Gene in die nächste Generation dadurch, dass sie verwandten Individuen helfen, mit denen sie einen Teil ihrer Gene gemeinsam haben. Allerdings ist nach wie vor unklar, ob Verwandtenselektion zur Erklärung von Eusozialität ausreicht. Weitere wichtige Faktoren scheinen Dominanzverhalten der reproduktiven Individuen,Konkurrenz zwischen den Arbeitern und schlechte ökologische Umweltbedingungen zu sein. Letztere können z. B. bei bestimmten Vogelarten dazu führen, dass es für einzelne Individuen günstiger ist, bei der Aufzucht von Geschwistern zu helfen ( Helferverhalten ) als selber aussichtslose Brutversuche zu unternehmen.
Das Sexualverhalten von Tieren hat sich unter sexueller Selektion ausgebildet und wird stark dadurch bestimmt, dass Weibchen in der Regel sehr viel mehr in die Produktion der Gameten investieren müssen als Männchen. Da für Männchen die Produktion der Spermien wenig Aufwand bedeutet, können sie ihren Fortpflanzungserfolg meist dadurch erhöhen, dass sie sich mit vielen Weibchen paaren. Die theoretische Anzahl von Nachkommen für ein Männchen ist daher sehr hoch. Weibchen bilden dagegen große Gameten und können nur eine begrenzte Anzahl von Nachkommen produzieren. Sie müssen mehr in die Aufzucht investieren und sollten darüber hinaus Verhaltensweisen zeigen, die die Überlebenschancen und zukünftigen Fortpflanzungschancen ihrer Nachkommen erhöhen. Aus diesem Grund erfolgt die Partnerwahl bei den meisten Tierarten durch die Weibchen, während die Männchen um die verfügbaren Weibchen konkurrieren. Je nach Tierart bevorzugen die Weibchen meist (1) Männchen, die besonders gute Väter für ihre Nachkommen sind, (2) Männchen, die besonders gesund und überlebensfähig sind ( good genes hypothesis ), (3) Männchen, die ihnen attraktiv erscheinen und daher vermutlich Söhne zeugen, die auf Weibchen späterer Generationen ebenfalls attraktiv wirken (Konzept der Fishers runaway selection ; sexy sons hypothesis ), und (4) Männchen, die
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