Tastenfieber und Liebeslust
rekapituliere, sehe ich immer wieder den gleichen Prozess, fast wie ein Entwicklungsgesetz. Auch unsere Klassiker haben als junge Dichter viele positive Entwicklungen angestoßen und galten als modern, fortschrittlich. 30 Jahre später kamen die Romantiker, die die Gedanken und Themen der älteren Generation als überholt, nicht mehr zeitgemäß und konservativ einschätzten. Insgesamt halte ich mich mit den Fragen und Problemen, die mich beschäftigen für wesentlich fortschrittlicher, der Zukunft und aktuellen Themen zugewandter als die meisten 68er mit ihrem Psychogedöns und der Betrachtung des eigenen Bauchnabels. Dies war mein Wort zum Sonntag.
Dein Cavaliere
8. April – 00:19 Uhr
Meine Liebste,
obwohl ich weiß, dass Du noch nicht wieder zu Hause sein kannst, hänge ich süchtig und in der Hoffnung an der Mailbox, dass ich, wenn schon nicht körperlich, dann zumindest geistig der schrecklichen Bestimmung meiner uradligen Abstammung nachkommen kann.
Ich würde mich jetzt so gern diesem archaischen Familiengesetz unterwerfen, um über Dir, unter Dir und in Dir zu sein. Ich würde nicht atmen wollen oder Ruhe suchen, nur um mit Dir in Harmonie und Ekstase eins werden zu können. – Übermorgen werden wir uns wiedersehen! Was wird mir die Zeit bis dahin lang!
Dein Cavaliere
8. April – 00:32 Uhr
Lieber Max,
nachdem ich die letzten Mails nochmals gelesen habe, sehe ich, dass Heinrichs Verhalten Dir gegenüber doch mehr verletzende Spuren hinterlassen hat, als ich zunächst dachte, weil Du es mehrfach als bedeutungs- oder harmlos dargestellt hast. ›Es ist amüsant, sich die Bälle zuzuwerfen.‹ usw.
An Deiner Frage nach der Neugier meiner Freunde zu Deiner Person und meiner Antwort darauf, die Dir missfiel, sehe ich, dass Du verunsichert und skeptisch bist. Max, es tut mir sehr, sehr leid, dass das passiert ist. Ich ließ Dich nicht ins offene Messer laufen, warum sollte ich das tun? Ich habe auch sofort für Dich Stellung bezogen: das Mindeste aus meiner Sicht. Und Heide hat ja nur das Foto von Dir kommentiert, und da sahst Du wahrlich nicht wie ein Hippie aus!
Die anderen haben nur von mir gehört, dass ich mich verliebt habe. Das löst eben Neugier aus. Es hat überhaupt keinen anderen Grund. Meine Freunde freuen sich mit mir, vielleicht ist auch ein klein wenig Neid dabei, denn ich strahle immer, wenn ich von Dir erzähle.
Du erwartest, forderst fast, dass ich auf den Stil Deiner Mail eingehe, aber ich reagiere so, wie ich fühle oder denke. Einerseits sagst Du mir immer, ich solle Deine Ergüsse nicht ernst nehmen. Andererseits berufst Du Dich ernsthaft auf sie. Molto complicato. Deine Ausführungen über die Alt-68er sind mir zu undifferenziert.
Die 68er sprachen zwar von der Gleichberechtigung, dachten aber nicht daran, sie öffentlich oder gar privat zu praktizieren. Und genau deshalb ist die Frauenbewegung überhaupt entstanden! Oder findest Du den Slogan ›Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment‹ besonders frauenfreundlich?
Hast Du wirklich noch Lust auf ein neues Treffen morgen mit Heinrich? Ich ehrlich gesagt nicht.
Was sollen wir also tun?
Deine Eva
8. April – 03:28 Uhr
Mein Herz,
es ist Nacht, und ich sterbe fast vor Sehnsucht nach Dir. Da kann ich auch gar nichts dagegen machen. Mich interessierst nur Du, nicht Dein Adel. Du bist nebenbei nicht der erste Adlige in meinem Leben. Davon gibt’s doch einige.
Deine Augen, Deine Echtheit, Dein Humor, Deine Fürsorglichkeit, Dein Esprit, Dein Lächeln, Deine Hände und Deine erotische Kraft … das alles verzaubert mich. Sicher ist der Adel durch die konservative Erziehung, den unberechtigten Stolz, der einem schon als Kind eingebläut wird (Vorfahren! Du redest ja im Wir, wenn Du von einem Ereignis in Deiner Familie sprichst, das 300 Jahre zurückliegt!!), ein größeres Lastpaket als man gemeinhin denkt.
Ich musste nur begabt sein, sonst hätte mich mein Vater wahrscheinlich noch mehr als ›Mädchen‹ erzogen. Gott sei Dank war ich begabt. Glück gehabt.
Sage bitte nicht immer, nur weil ich um 3.30 Uhr nachts Mails beantworte, dass ich eine Nachteule, eine besondere Erscheinung usw. bin. Ich schreibe Dir ja auch nicht immer, dass Du eine Schlafmütze bist, nur weil Du schon um 22 Uhr im Bett liegst!
Bei solchen Äußerungen reagiere ich etwas allergisch, weil ich von vielen anständigen Bürgern oft hören musste: ›Die schläft bis mittags!‹ Ich musste mich dann jedes Mal
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