Tatjana
Ledersesseln. Alle trugen schwarze Abdul-T-Shirts. Arkadi hatte sich vorgenommen, Mafiabosse wegen Tatjana zu befragen. Zugegeben, es gab keinen Fall, aber vielleicht war jetzt die beste Zeit.
»Was halten Sie davon?«, fragte Abdul.
»Von dem Video? Ich befürchte, als Kritiker bin ich nicht geeignet.« Arkadi hoffte, beeindruckt zu wirken. Die schallisolierten Wände, die Minibar, das Tonmischpult und die Videokonsole in der Größe der Kommandobrücke eines Raumschiffs waren Symbole des Erfolgs. Gleichzeitig waren sie subtile Erinnerungen an Abduls Unternehmen: die Abrissfirma in Grosny, die gestohlenen Autos, die Prostituierten, die er in den besten Hotels von Moskau einsetzte, alles beworben mit aufdringlichem Rap.
»Ihre ehrliche Meinung?«
»Na ja, ein bisschen …«
»Ja?«
»Übertrieben.«
»Übertrieben?«
»Ein Ideechen.«
»Was für ein Scheiß. Von meiner letzten DVD wurden fünfhunderttausend Stück verkauft. Meine Website wird tausendmal pro Tag angeklickt. Klingt das übertrieben?«
»Klingt beängstigend.« Arkadi kam es vor, als schweiften sie vom Thema ab. »Sie haben den Kripobeamten Slowo und Blok erzählt, dass Sie Tatjana Petrowna kannten?« Das hielt Arkadi immer noch für unwahrscheinlich.
»Ja.«
»Auf einer freundschaftlichen Basis?«
»Sie finden das unglaubwürdig. Ein Polizist sollte wissen, dass niemand ein hundertprozentiger Heiliger oder Sünder ist.«
»Und jetzt sind Sie ein guter Bürger?«
»Warum nicht?«
Viktor hatte Abdul, Ape Beledon und Valentina Schagelmann als die Mafiabosse benannt, die am ehesten eine Kugel für Grischa Grigorenko bestellt hatten. Ansonsten waren sie alle gute Bürger.
»Während des Krieges war Tatjana den Tschetschenen eine Freundin und hat sich für den Frieden eingesetzt. Jedes Mal, wenn es eine Gräueltat gab – und glauben Sie mir, es gab täglich Gräueltaten –, tauchte sie ungebeten auf.« Ein Kichern lief durch sein Gefolge. »Macht, dass ihr rauskommt. Wozu, zum Teufel, hängt ihr hier noch rum? Ihr alle. Raus!«
Die Männer schienen die Launen ihres Brötchengebers zu kennen. Seufzend gingen sie hinaus, die Frauen stolperten hinter ihnen her. Abdul wartete, bis sich der Staub gelegt hatte.
»Kretins.«
»Kein Problem. Das klingt ja, als wären Sie gut mit Tatjana ausgekommen.«
»Ausgekommen? Könnte man so sagen. Zweimal hatte ich sie in Tschetschenien in meinem Zielfernrohr. Beim ersten Mal bemerkte ich, dass sie ein blutüberströmtes Kind auf den Armen hatte. Als ich sie das nächste Mal im Zielfernrohr hatte, trug sie eine Großmutter aus der Gefahrenzone. Ich beschloss herauszufinden, wer diese Person war, bevor ich auf den Abzug drückte.«
Stimmte die Geschichte? Abdul war Experte darin, seine eigene Legende zu schaffen.
Abdul wühlte in seiner Minibar. »Hätten Sie gern was zu trinken? Wasser, Bier, Cognac?«
»Nein, danke.«
»Also habe ich sie aufgespürt.«
»Und?«
»Tja, ich entdeckte, dass sie eine Frau war.«
»Was soll das heißen? Sie und Tatjana?«
»Finden Sie’s raus, Sie sind der Ermittler. Ich kann nur eines sagen, Tatjana Petrowna war eine Kämpferin. Sie wäre nie vom Balkon gesprungen.«
»Spielt keine Rolle. Es gibt keinen Fall und keine Leiche.«
»Ich weiß. Die Leute sagen, Sie seien verrückt.« Abdul boxte in die Luft. »Wirklich. Sie sagen, Sie seien durchgeknallt. Ich habe gesehen, wie Sie bei Grischas Beerdigung seinen Sohn Alexi zusammengestaucht haben. Und Sie tragen keine Waffe? Das ist Wahnsinn.«
»Es gibt keinen Fall.«
»Wenn es Ihnen wichtig ist, gibt es immer einen Fall. Hey, ich hätte gern Ihre Meinung. Ich habe noch eine DVD .«
»Noch eine?«
»Tatjana meinte, das Video bräuchte vielleicht noch ein wenig Ausgewogenheit. Um meine Basis zu erweitern, wissen Sie.« Er deutete mit dem Kopf zur Tür. »Meine Freunde sind meine Freunde, aber künstlerisch fehlen ihnen die Nuancen.«
»Zeigen Sie her.« Warum nicht noch ein Testosteronbad?, dachte Arkadi. Soweit er es beurteilen konnte, bestand die einzige Information, die er von Abdul bekommen hatte, in der Andeutung, er habe mit Tatjana geschlafen, eine Prahlerei, für deren Leugnung sie leider zu tot war.
Die DVD war die gleiche, mit derselben Kombination aus Eitelkeit und Blut. Völlig identisch, bis auf die Schlusseinstellung von Abdul, der direkt in die Kamera blickte, während ihm eine Träne über die Wange lief.
»Mitgefühl«, sagte Abdul.
»Tonnenweise.«
Schagelmann gab eine gute Imitation eines
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