Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
einstürzenden Mauer gefallen. Sie hatten sich wehgetan. In der ersten Angst hatten sie um Hilfe gerufen. Aber dann, als sie die Polizeisirenen hörten, hatten sie sich gegenseitig von den Steinen aufgeholfen und waren zusammen in die Bäckergasse geflohen. Von dort hatten sie den Platz wieder erreicht. Sie wollten nichts mehr voneinander. Sie vermieden es, sich anzusehen. Sie waren aus Märchen und Indianergeschichten erwacht und schämten sich. »Frag nicht«, sagte Ezra zu Christopher, »frag nicht, ich möchte nach Hause fahren. Es ist nichts. Ich bin hingefallen.« Christopher drängte durch die Menge zu seinem Wagen. Aus dem Club kamen Washington und Carla. Sie gingen zu ihrem Auto. »Da ist er!« rief Frau Behrend. »Wer ist das?« riefen die kahlköpfigen Geschäftsmänner. Frau Behrend schwieg. Sollte sie ihre Schande hinausschreien? »Ist es der Taxi-mörder?« fragte der eine Kahlkopf. Er leckte sich dieMundwinkel. »Da geht der Taximörder«, rief der zweite Kahlkopf. »Die Frau sagt, es ist der Taximörder. Sie kennt ihn!« Dem zweiten Kahlkopf stand der Schweiß im Gesicht. Eine neue Welle der Wut schäumte aus der Menge. Die zerbrochenen Fenster hatten sie ernüchtert, aber da sie menschliches Wild sahen, erwachten ihre Jagdinstinkte, die Verfolgungswut und das Tötungsgelüste der Meute. Pfiffe gellten, »der Mörder und seine Hure« wurde gerufen, und wieder flogen die Steine. Die Steine flogen gegen die horizontblaue Limousine. Sie trafen Carla und Washington, sie trafen Richard Kirsch, der hier Amerika verteidigte, das freie, brüderliche Amerika, indem er den Gefährdeten beistand, die ruchlos geworfenen Steine trafen Amerika und Europa, sie schändeten den oft berufenen europäischen Geist, sie verletzten die Menschheit, sie trafen den Traum von Paris, den Traum von Washington's Inn, den Traum NIEMAND IST UNERWÜNSCHT , aber sie konnten den Traum nicht töten, der stärker als jeder Steinwurf ist, und sie trafen einen kleinen Jungen, der mit dem Schrei »Mutter« zum horizontblauen Wagen gelaufen war.
Der kleine Hund schmiegte sich dicht an Emilia an. Noch fürchtete er sich. Er fürchtete sich vor den anderen Hunden der Fuchsstraßenvilla, er fürchtete sich vor den Katzen und vor dem kreischenden Papagei, er fürchtete sich vor der kalten und toten Luft dieses Hauses. Aber die Tiere taten ihm nichts. Sie beruhigten sich. Sie hatten geknurrt, gejault, gekreischt, sie hatten ihn beschnuppert, und dann beruhigten sie sich. Sie wußten, der neue Hund würde bleiben. Er war ein neuer Gefährte, ein neuer Kollege, mochte er bleiben. Es war genug Essen für die Tiere in diesem Haus, wenn es auch für die Menschen nicht mehr reichte. Der Hund würde sich an die kalte und tote Luft gewöhnen, und Emilia war ihm ein Versprechen von Freundschaft und Wärme. Emilia aber fror. Sie hatte gehofft, daß Philipp in der Wohnungauf sie warten würde. Noch war sie Doktor Jekyll. Sie hatte noch nicht viel getrunken, sie wollte Doktor Jekyll bleiben. Doktor Jekyll wollte nett zu Philipp sein. Aber Philipp war nicht da. Er hatte sich ihr entzogen. Er hatte den lieben Doktor Jekyll nicht lieb gehabt. Wie Emilia das Haus haßte, aus dem sie niemals für immer fortgehen würde! Das Haus war ein Grab, aber es war das Grab der lebenden Emilia, und sie konnte es nicht verlassen. Wie haßte sie die Bilder, die Philipp aufgehängt hatte! Ein Kentaur mit einem nackten Weib auf dem Pferderücken, die Nachbildung eines pompejanischen Wandgemäldes, starrte sie mit höhnischem Lächeln an. In Wahrheit war das Gesicht des Kentauren ausdruckslos. Es war so ausdruckslos wie alle Gesichter auf den pompejanischen Bildern, aber Emilia schien es, daß der Kentaur sie verhöhnte. Hatte nicht auch Philipp sie entführt, nicht gerade auf einem Pferderücken, aber jung und nackt hatte er sie aus dem Glauben an den Besitz, aus dem schönen unschuldigen Glauben an das ewige Recht des Besitzes gerissen und sie in das Reich der Intellektualität, der Armut, des Zweifels und der Gewissensnot geführt. In einem dunklen Rahmen hing ein Stich des Piranesi, das Gemäuer des alten Aquäduktes in Rom, eine Mahnung an Untergang und Verfall. Nur Moder umgab Emilia, Stücke der Kommerzienratserbschaft, tote Bücher, toter Geist, tote Kunst. Dieses Haus war nicht zu ertragen. Hatte sie nicht Freunde? Hatte sie nicht Freunde unter den Lebenden? Konnte sie nicht zu Messalina und Alexander gehen? Bei Messalina gab es Musik und Getränke, bei Messalina
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