Taubenkrieg
Jolters griff nach einem aufwendig eingerahmten Foto, welches auf einer Anrichte stand. »Der alte Kellerbach und unser Erich. Schau, was der Oberindianer für ein angefressenes Gesicht macht. Das sagt doch wohl alles!«
Boris warf einen Blick auf das Bild. Dass Kellerbach mit den wichtigsten Politikern des Landes auf Du und Du bekannt gewesen war, überraschte ihn nicht besonders. »Waren die erfolgreichen Akademiker nicht alle in der Partei?«
»Rein formell schon, aber die wenigsten haben heute noch ihre Honecker-Bilder im Empfangszimmer stehen.«
Die anderen Exponate der kleinen Ausstellung zeigten ähnliche Aufnahmen: Auf einem Empfang strahlte Katharina Witt in die Kamera, Seite an Seite mit dem Schweriner Staranwalt. Und wenn Boris sich nicht täuschte, war der Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht, der neben Kellerbach auf einem hässlichen Sofa saß, Erich Mielke.
»Schau mal, hast du den schon kennengelernt?«, fragte Jolters und wies auf den dritten Mann, der zwischen Kellerbach und dem Stasichef auf dem Poster hockte. Ein feistes Gesicht mit buschigen, roten Augenbrauen, ansonsten kahl. Er schien etwas jünger zu sein als seine Sitznachbarn. »Das ist der werte Herr Gauly.«
»Der Herr Oberstaatsanwalt, ja, ich hatte bereits das Vergnügen. Zwar nur kurz, denn inzwischen hat den Fall ja seine |120| Untergebene übernommen, aber dafür mit bleibendem Eindruck. Der Mann scheint sehr von sich überzeugt zu sein.«
»Gauly und Kellerbach sind Duzfreunde. Und den Mielke haben sie wahrscheinlich auch privat in seiner Datsche besucht. Alles eine Bagage.«
»Wenn Gauly nachweislich mit dem Minister der Staatssicherheit befreundet war, wie kann er dann heute einen Posten als leitender Oberstaatsanwalt haben? Gab es da nicht eine Entrümpelungsaktion im Staatsdienst?«
»Sagen wir es so: Offizielle Zahlen behaupten, dass vierzig bis fünfundachtzig Prozent derer, die für die Stasi tätig waren, gekündigt wurden. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass es eine ganze Reihe von Personen gibt, die trotzdem blieben.«
»Gauly hat sogar Karriere gemacht…«
»Soweit ich weiß, hat man ihm auch nie etwas vorwerfen können. Er war damals als Jurist im Ministerium für Volksbildung, also auf einer völlig anderen Baustelle.«
Die Familienschnappschüsse fanden sie schließlich ganz hinten, versteckt zwischen den Topfpflanzen. Passepartout und Silberrahmen fielen bei den Privatfotos weniger üppig aus. Boris nahm ein sehr gestelztes Vater-Mutter-Kind-Arrangement zur Hand. Leo Kellerbach als etwa zehnjähriger Junge mit kräftigem Kinn, einigen Sommersprossen auf der Nase und dem störrischsten Haarwirbel, den man sich vorstellen konnte.
»Kennst du die Kellerbachs persönlich?«
Jolters betrachtete das Bild. »Nur Nikola. Sie war mal kurz mit meinem älteren Bruder zusammen. Eine Klassefrau, aber kalt wie ein Fisch.«
»Und Leo?«
»Vom Sehen. Der war früher schon ziemlich rebellisch, soweit ich weiß. Zwar war er nicht mehr auf der Schule, als ich zum Gymnasium kam, aber es wurden immer noch wilde Geschichten |121| über ihn erzählt. Das schwarze Schaf der Familie mit der blütenweißen Weste.« Er schickte ein ironisches Lachen hinterher. »Irgendwer hat mal gesagt, bei dem ist es umgekehrt wie bei seinen Alten: Wenn man die Scheiße abkratzt, findet man Gold.«
Boris schaute sich die vier Personen so intensiv an, als erwarte er, dass sie sogleich aus der Zweidimensionalen heraussprangen und ihm die Wahrheit erzählten. »Leo und Nikola …«
»Die Kellerbachs haben ihren Nachwuchs nach Tolstoi benannt: Leo Nikolajewitsch.« Jolters rollte die Augen. »Der war ja noch ewig nach der Wende Pflichtlektüre an unseren Schulen. Thema Sozialethik, lang, lang ist’s her.
Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich
. Das ist das sogenannte
Anna-Karenina- Prinzip
.«
»Zu welcher Kategorie zählen sich die Kellerbachs?«
»Offiziell zur ersten.«
Der Rahmen des Familienfotos war klein genug, um unauffällig in der Jackentasche versenkt zu werden. Und da es bislang einen so unscheinbaren Platz eingenommen hatte, war kaum davon auszugehen, dass dieses unerlaubte Entwenden allzu bald auffallen würde. Jolters bekam die Aktion zum Glück nicht mit, doch als fast im selben Moment die Tür schwungvoll geöffnet wurde, zuckten beide ein wenig schuldbewusst zusammen.
Boris erkannte den eintretenden Mann von der
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