Taubenkrieg
harmloser, ganz normaler Passant grundlos und ohne Vorwarnung von drei
G-Point -Gangsters
überfallen worden war.
Verdammt, das durfte doch wohl nicht wahr sein! Sie hatte in aller Seelenruhe ein Eis geschleckt und nichts davon mitbekommen. Wencke drängte sich durch den Pulk und sah ihren Verfolger zum ersten Mal von Nahem. Ein nettes, etwas speckiges Gesicht eigentlich, doch jetzt war es durch Schmerzen und Schock entstellt. Der Papagei schrie nicht, aber er war Gott sei Dank noch am Leben. Seine riesige, silber verspiegelte Sonnenbrille |116| lag neben seinem Kopf, das Glas war in tausend Scherben zerbrochen.
Ein paar Schritte weiter traute sie sich, das Funkgerät auf Empfang zu stellen. Jetzt würde sich zeigen, wie nah ihre Leute in diesem Augenblick wirklich waren. »Ich bin’s! Hier am Schloss ist gerade …«
»Wir wissen Bescheid!«, vernahm sie Boris’ Stimme. Er musste bereits auf ihre Meldung gewartet haben »Der Notruf ging gerade auch bei uns durch. Und du solltest dich schnell aus dem Staub machen.«
»Warum?«
»KHK Wachtel ist auf dem Weg zum Tatort. Oberstaatsanwalt Gauly womöglich auch. Denen solltest du nicht über den Weg laufen, sonst fliegt deine Tarnung auf.«
»Das Opfer liegt schwer verletzt am Boden, da kann ich doch nicht einfach so …«
»Der Krankenwagen ist unterwegs, mehr wirst du da auch nicht retten. Wenn sie dich erst als Zeugin im Visier haben, ist deine Deckung in Gefahr. Nimm den nächsten Bus Richtung Ziegelsee, hörst du?« Boris’ Stimme duldete keinen Widerspruch, also schulterte Wencke ihren Rucksack und verließ den Ort des Geschehens. Niemand hielt sie auf, sie war unauffällig geblieben, eine von denen, die sich lieber aus dem Staub machten, wenn es brenzlig wurde. Außer ihr hatte mehr als die Hälfte der Zeugen inzwischen das Weite gesucht.
Doch sie war keine Zeugin, nein, in Wirklichkeit steckte sie mittendrin. Dieser Mann hatte sie seit mehr als zwei Stunden verfolgt, harmlos, aber stur, und dann war er von den
G-Point -Gangsters
zusammengeschlagen worden. Das konnte beim besten Willen kein Zufall sein. Entweder wussten die feindlichen Rocker irgendwoher, dass der Papagei sich auf der Brücke aufgehalten hatte, oder sie waren ihrerseits die ganze Zeit Verfolger gewesen. Wessen Verfolger? Und was hatten sie mit |117| ihrem Überfall bezwecken wollen? Die Observation von Christine Frey beenden? Oder ihr auf diese Weise demonstrieren, dass sie es mit weitaus mehr Problemen zu tun hatte als nur mit ihren neuen Pächtern?
Das war jedoch nur in dem Fall logisch, wenn Christines wahre Identität bereits aufgeflogen wäre. Einer bankrotten Grundstücksbesitzerin einen Warnschuss zu verpassen, machte keinen Sinn. Einer Undercoverermittlerin schon.
|118| Die Zehn
verbindet als Zahl den Anfang mit dem Nichts
Die Stadtvilla der Advokatenfamilie lag stilecht in einer Straße mit Komponistennamen, nur einen Steinwurf vom »Platz der Freiheit« entfernt. Obwohl – kein echter Kellerbach würde je einen Stein werfen. Das sah man sofort.
Boris und ein Schweriner Kollege namens Steffen Jolters wurden tatsächlich von einer Art Hausmädchen begrüßt und in einen Wintergarten geführt, wo es nach kaltem Zigarrenrauch und einem hilflos dagegen ankämpfenden Lufterfrischer roch.
Jolters, ein mittelwichtiger LK A-Mann in Boris’ Alter, war ein netter Typ mit Brille, aschblondem Haar und Dreitagebart. Er hatte allem Anschein nach kein Problem damit, dass ihm an diesem Morgen ein Profiler aus Hannover untergejubelt wurde.
»Ich wette, die lassen uns mindestens zehn Minuten warten«, tippte er und sah sich die Gemälde an, auf denen blasierte Visagen in Öl gepinselt worden waren. »Ich komme ja hier aus Schwerin. Und schon vor der Wende hieß es: Die Kellerbachs sind die arrogantesten Schweinepriester der ganzen Stadt.« Jolters gab sich keine Mühe, leise zu reden.
Boris flüsterte trotzdem. »Waren sie schon immer so reich? Auch im sozialistischen Einheitsstaat?«
»Wenn die nicht in der DDR sogar noch ein bisschen reicher |119| gewesen sind. Es gibt so ein paar Vertreter der Nomenklatura…«
»Der was?«, fragte Boris nach.
»So nannte sich unsere Elite, die nicht nur aus Parteigrößen, sondern auch aus anderen Privilegierten bestand, Wirtschaft und Gesellschaft und so. Die Kellerbachs gehörten dazu, auch wenn sie sicher keine ausgewiesenen Sozialisten waren. Deswegen hat die ganze Wende dem zweifelhaften Glanz der Familie nichts anhaben können.«
Weitere Kostenlose Bücher