Taubenkrieg
Abgleichung eines Alibis oder das Sichern der Fingerabdrücke. Manchmal wurden eben schon am Anfang eines Lebens die |127| Weichen so gestellt, dass das tragische Ende vorprogrammiert war. Und wenn ein Vater so gut wie nichts über die frühen Tage seines Sohnes wusste, war das schon ein wichtiger Hinweis. Nur: In welche Richtung dieser Hinweis führte, konnte Boris noch nicht mal ansatzweise ahnen.
Nikola Kellerbach trat ein, ohne anzuklopfen. Sie trug ein tiefschwarzes Kostüm und gab ihrem Erzeuger je links und rechts ein Küsschen, aufgesetzter konnte Zuneigung kaum sein. Über Steffen Jolters schien sie sich immerhin wirklich ein bisschen zu freuen, sie fragte nach dessen Bruder, und beide scherzten kurz über die kurze, aber spannende Liebelei, die es damals gegeben hatte. Nikola wirkte entspannter als ihr Vater, und obwohl sie im Gegensatz zu ihm dunkle Klamotten trug, schien sie nicht besonders mitgenommen zu sein vom Verlust ihres Bruders und Kollegen. Es machte fast den Eindruck, als wären angemessene Gefühle in diesem Haus unzulässig.
»Guten Morgen«, sagte sie dann auch zu Boris und lehnte sich gegen den runden Tisch, damit klar war, sie war schon mit halbem Fuß wieder draußen. »Mein Vater sagte, ich könne Ihnen besser weiterhelfen als er.«
Das konnte sie aber leider auch nicht. Auch die Schwester des Toten wusste nichts von einer Freundin oder anderweitigen Beziehungen. Auch sie vermutete, dass neben Justitia und den
Devil Doves
kein Platz in Leo Kellerbachs Herzen mehr übrig geblieben war.
»Und als Kind?«, hakte Boris nach.
»FDJ – genau wie ich. Und wenn sich die Gelegenheit ergab, hat er mit ein paar anderen Jungs in den verfallenen Häusern der Altstadt Krieg gespielt. Ganz harmlos, mit Holzgewehren und so.«
»War Tim Beisse auch dabei?«, wollte Boris wissen.
»Wer?«
|128| Der alte Kellerbach mischte sich ein. »Vor ein paar Wochen war hier ein Mann in Leos Alter, der vorgab, ein alter Freund zu sein. Er nannte sich Tim Beisse.«
Sie runzelte die Stirn. »An den Namen kann ich mich nicht erinnern.«
»So ein Schlaksiger mit Bart«, half der Senior ihr auf die Sprünge.
»Nie gehört.« Sie warf den obligatorischen Blick auf die Armbanduhr. »Wenn sonst nichts ist, ich glaube, meine bessere Hälfte wartet schon draußen.«
Boris stutzte und folgte Nikola Kellerbachs raschem Entschwinden mit den Augen. Der Wintergarten war an der Hausseite, man konnte von hier aus einen kleinen Teil der Straße einsehen. Ein Motorradfahrer stand neben seiner Maschine. Der Moment, in dem der Wartende seinen Helm absetzte, um Nikola Kellerbach zur Begrüßung auf den Mund zu küssen, war nur sehr flüchtig, doch er reichte, um die lockigen, halblangen Haare zu erkennen –
Patch Blacky
. »Ihre Tochter ist mit Thorsten Schwarz zusammen?«
»Ja, leider, seit ein paar Wochen.« Der alte Kellerbach trat neben ihn und seufzte. »Es ist ja nicht so, dass ich überhaupt nichts mitbekomme vom Leben meiner Kinder. Ich habe aber keine Ahnung, was Nikola und Leo zu diesem Gesindel hingezogen hat.«
|129| Die Elf
ist die Zahl der Reumütigen
Was waren das für Vögel? Enten? Gänse? Irgendetwas schnatterte penetrant vor ihrem Fenster, und davon war Wencke aufgewacht. Langsam schob sie sich von der Pritsche und war beinahe verwundert, wie gut sie auf diesem harten Ding geschlafen hatte. Wahrscheinlich hatten die drei Bier, die sie mit ihren neuen Pächtern getrunken hatte, das Ihre dazu beigetragen. Immer wieder waren die Halbliter-Gläser in die Höhe gegangen. Auf gute Zusammenarbeit! Auf freundschaftliches Miteinander! Und dann war es dringend Zeit gewesen, sich in ihr kleines Separee am Ende des Grundstückes zurückzuziehen.
Zwar hatte Wencke bis fast in die frühen Morgenstunden die Geräusche der fleißigen Handwerker rund um die hölzerne Kiste gehört, doch das Hämmern und Bohren und Sägen hatte sie immer nur kurz aus dem Schlaf gerissen, so kurz, dass es noch nicht einmal reichte, die Augen zu öffnen.
Jetzt – sie schaute auf ihr Handy, es war tatsächlich schon kurz vor neun – herrschte draußen idyllische Stille. Das Wasservögelgequake erinnerte daran, dass sie sich am Rande eines Naturschutzgebietes befand. Durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden schien die Sonne wie in Streifen geschnitten, und im Halbdunkel sah das Interieur der Gartenlaube gar nicht mal schlecht aus: Möbel aus den Sechzigern, die hatte sie gestern |130| noch abgestaubt, genau, wie sie den alten
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