Taubenkrieg
hatte er tagtäglich zu tun.«
»Die Mitarbeiter haben wir natürlich schon befragt. Doch hier beschränkt sich auch alles auf die berufliche Zusammenarbeit. Wir interessieren uns jetzt mehr für das Private. Hatte Ihr Sohn eine Freundin?«
Man sah Kellerbach an, dass ihm diese Frage unangenehm war, er nestelte an einem Manschettenknopf herum. Erst jetzt fiel Boris auf, dass der Anzug nicht nur sicher sauteuer und wahrscheinlich maßgeschneidert war, sondern auch mittelbraun. Warum trug der Vater des Opfers keine Trauer?
»Also, da hätten Sie auch in Ihre Akten schauen können, denn danach haben mich Ihre Kollegen sicher schon ein Dutzend Mal gefragt. Und jedes Mal antworte ich: Nicht, dass ich wüsste.«
Klar, diese Wischiwaschi-Aussage war Boris bekannt. Doch genau damit wollte er sich eben nicht begnügen. »Aber Leo hatte doch eine Maisonettewohnung hier in Ihrem Haus. Sie lebten also unter einem Dach, da bleibt doch so etwas nicht verborgen.«
»Dann wird er wohl keine Freundin gehabt haben.«
Boris sagte nichts weiter, denn es war dem so beherrschten Mann anzusehen, wie unangenehm dieses Thema für ihn war. Da war es nicht die schlechteste Masche, ihn ein bisschen warten |125| zu lassen. Und tatsächlich, Kellerbach ließ sich nach einer gefühlten Ewigkeit zu einem weiteren Satz hinreißen: »Aber er war auch nicht homosexuell, falls Sie das jetzt vermuten.«
Nein, das hatte Boris nicht vermutet, aber die Art, wie dieser Mann über das Thema sprach, machte deutlich, wie wenig willkommen ein schwuler Sohn in diesem Hause gewesen wäre.
»Gab es denn Bekannte, mit denen er sich außerhalb seines Motorradclubs traf?«
»Mein Sohn war ein vielbeschäftigter Jurist, und sein Hobby Motorradfahren – welches ich übrigens mehr als befremdlich fand – hat ihn auch sehr in Beschlag genommen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er noch Zeit fand, einen Schrebergarten zu pflegen.«
Holla, der Mann hatte tatsächlich ein bisschen Humor, wenn auch mit spitzer Zunge vorgetragen.
»Was hat Leo denn als Kind gern gespielt?«
»Er war in der FDJ.«
»Und sonst?«
Kellerbach musste eine Weile überlegen. »Ich konnte damals selten zu Hause sein. Meine Frau hätte das beantworten können, aber sie ist – wie Sie sicher wissen – bereits vor drei Jahren gestorben.«
»Sie haben doch noch eine Tochter. Vielleicht weiß sie da ein bisschen mehr?«
»Nikola. Ja, ich kann sie mal rufen lassen. Sie lebt ebenfalls hier im Haus.« Er verschwand kurz durch die Tür, sichtlich verunsichert durch die Tatsache, dass er im Grunde nichts anderes über seinen toten Sohn wusste als die Dinge, die man auch auf dessen Wikipedia-Eintrag lesen konnte. Als er wieder den Raum betrat, fabrizierte er tatsächlich ein kurzes Lächeln auf seinen Lippen. »Sie haben Glück, meine Tochter war gerade auf dem Sprung in die Kanzlei.« Und jetzt – tatsächlich – |126| schaffte er es auch, ein freundlicher Gastgeber zu sein. »Setzen Sie sich doch«, bot er an. »Soll ich Kaffee bringen lassen?«
Boris blieb demonstrativ stehen und schüttelte den Kopf. Jolters machte mit, obwohl er sicher gern ein bisschen Koffein geschlürft hätte, schließlich war es noch keine neun Uhr. Doch beide waren sich wortlos einig, dass es jetzt zu spät war für Höflichkeiten.
Der alte Anwalt bemerkte diese Aktion leider kaum, sondern dachte angestrengt nach, zumindest vermittelte er den Eindruck. »Da fällt mir etwas ein. Das habe ich auch noch nicht Ihren Kollegen gesagt, weil es ein paar Wochen zurückliegt und ich seitdem nicht mehr daran gedacht hatte. Neulich ist ein alter Freund von Leo hier gewesen.«
Boris horchte auf.
»Er sagte, er kenne meinen Sohn aus Kindertagen und sei mehr zufällig auf den Gedanken gekommen, einmal hier vorbeizuschauen, weil er gerade in der Stadt war.«
»Kannten Sie den Mann?«
»Nein.« Er ließ den Kopf ein wenig schuldbewusst hängen. »Aber wie gesagt, ich war als Vater nicht so oft zugegen, als dass ich die Freunde meiner Kinder hätte kennen können.«
»Hat er seinen Namen genannt?«
»Ja, mein Namensgedächtnis ist auch sehr gut. Er hieß Tim Beisse.«
Boris holte seinen Block heraus und notierte den Namen. Wahrscheinlich hatte die Sache nichts mit dem Mord zu tun. Aber vielleicht ergab sich die Gelegenheit, diesen alten Freund ein wenig nach der Kindheit des Mordopfers zu befragen. Den Kripokollegen mochte das überflüssig erscheinen, für einen Soziologen gehörte es jedoch ebenso dazu wie die
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